London NW: Roman (German Edition)
so ein zutiefst frommer Mensch, der von den klischeehaften Typen, die sich selbst als fromm bezeichneten, nicht für fromm gehalten wurde, wobei man fairerweise natürlich sagen musste, dass solche Leute wahrscheinlich auch hin und wieder auf ihre eigene, ungebildete Art fromm waren, wenngleich nur durch Zufall und nur ein bisschen.
32. Unterschiede
Ein klitoraler Orgasmus ist ein örtlich begrenztes Phänomen, das sich auf die Klitoris beschränkt. Absurderweise wird er meist nicht durch direktes Stimulieren der Klitoris hervorgerufen, das im Gegenteil Schmerz und Verdruss und manchmal auch ein intensives Gefühl von Langeweile auslöst. Der direkteste Weg besteht darin, Klitoris und Schamlippen gleichzeitig mit kraftvollen, kreisförmigen Bewegungen einer Hand zu bearbeiten. Der so ausgelöste Höhepunkt ist heftig und höchst genussvoll, aber kurz, so wie der männliche Orgasmus. Was die kontroverse Frage »klitoral oder vaginal?« betraf, musste sich Keisha zum Agnostizismus bekennen. Da konnte man genauso gut fragen, ob Blau oder Grün die bessere Farbe war.
Ein vaginaler Orgasmus kann durch Penetration ausgelöst werden, aber auch einfach dadurch, dass das Becken leicht vor- und zurückbewegt wird und die Gedanken sich interessanten Dingen zuwenden. Letztere Methode eignet sich vor allem für den Einsatz in Bussen und Flugzeugen. Anscheinend befindet sich an der Wand des Scheidenkanals, auf halber Höhe der dem Bauchnabel zugewandten Seite, eine kleine Erhebung, etwa so groß wie ein Zehn-Pence-Stück, die durch so ein »Schaukeln« stimuliert wird, aber ob es sich dabei um den sogenannten »G-Punkt« handelte und der tatsächlich der Auslöser dieses fast unerträglich genussvollen Gefühls war, das konnte Keisha Blake beim besten Willen nicht in Erfahrung bringen. Wie immer er auch zustande kommt, zeichnet sich der vaginale Orgasmus vor allem durch Länge und Intensität aus. Er wird als eine Anzahl von Zuckungen erlebt, so als würde sich die Vagina öffnen und schließen, wie eine Faust. Vielleicht tut sie das ja auch. Aber ob es sich dabei um den sogenannten »multiplen Orgasmus« handelte, entzog sich ebenfalls Keisha Blakes Kenntnis, obwohl es ihr ganz typisch für die weibliche Neigung zum Anspruchslosen erschien, dass manche Darstellungen schon ein einziges Öffnen und Schließen dieser »Faust« als vollwertigen Orgasmus akzeptierten. Vielleicht handelte es sich ja schlicht und einfach um eine phänomenologische Frage. Wenn Leah Hanwell die Blume als blau bezeichnete und Keisha Blake dieselbe Blume als blau bezeichnete, wie konnten sie dann sicher sein, dass sie mit dem Wort »blau« das identische Phänomen erfassten?
33. Anklageerhebung
Marcia entdeckte Leahs Geschenk bei einer ihrer regelmäßigen Durchsuchungen. Die hatten im Grunde Cheryl zum Gegenstand – die neuerdings freitags verschwand und erst montags wieder auftauchte –, und nichts wäre leichter für Keisha gewesen, als dem ohnehin schon ruinierten Ruf ihrer großen Schwester auch noch den Besitz eines Dildos hinzuzufügen. Unfähig, den Anblick der mit der Plastiktüte fuchtelnden Marcia noch länger zu ertragen, warf sich Keisha Blake bäuchlings aufs Bett, um einen Heulkrampf zu simulieren, doch mitten in diesem Vorgang fand sie sich plötzlich in einem ganz realen Zwiespalt und brachte es weder über sich, ihrer Schwester oder Leah die Schuld zu geben, noch der Alternative, mit der sie sich jetzt konfrontiert sah – dass nämlich ihr Vater informiert würde –, ins Auge zu blicken. Keisha Blake dachte nach links und dachte nach rechts, doch da war kein Ausweg, und höchstwahrscheinlich kam ihr hier zum ersten Mal die Selbstmordfrage in den Sinn.
»Und erzähl mir nicht, du hättest ihn gekauft«, sagte ihre Mutter, »weil ich nämlich wirklich nicht wüsste, wo du das Geld dafür herhaben solltest.« Im Verlauf des Verhörs ging Marcia praktisch alle Mädchen aus der Siedlung durch, bis sie sich schließlich zu der schmerzhaften Option Leah vorarbeitete und im Gesicht ihrer Tochter die Bestätigung fand.
34. Entzweit
In der Folge kam es zum Bruch zwischen Leah Hanwell und Keisha Blake, von Marcia erzwungen, aber gefolgt von einer Phase der Abkühlung, die nicht allein Marcia anzulasten war. Die Mädchen waren sechzehn. Die Phase hielt anderthalb Jahre an.
35. Weltschmerz!
Ganz ohne Leah – in der Schule, auf der Straße, in Caldwell – fühlte sich Keisha Blake entblößt und exponiert. Bis zu dem Bruch war ihr gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher