Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
Vom Netzwerk:
dem kleinen Waschbecken in der Zimmerecke aus den Rillen des Vibrators waschen musste. Sie sollte den Dildo nur zwei Wochen lang haben, doch in dieser Zeit benutzte sie ihn regelmäßig, manchmal sogar mehrmals täglich, häufig auch, ohne ihn zwischendurch zu reinigen, und immer auf dieselbe geschäftsmäßige Art, als würde sie jemand anderen mit einer Aufgabe betrauen.
30. Jugend, Mehrwert, Schizophrenie
    »Und dann machen wir so weiter«, sagte Layla und wechselte in eine andere Lage, und Keisha notierte. »Role models« , sang Layla in der neuen Tonart, » bringing the truth, bringing the light. « Keisha notierte weiter. » Making it right «, sagte Layla und wiederholte die Worte dann noch einmal, diesmal gesungen, und Keisha nickte und notierte weiter. Layla war hochmusikalisch, sie hatte eine wunderschöne Stimme. Ihre Mutter war in Sierra Leone als Sängerin berühmt. Keisha konnte nicht singen und war auch nicht gut auf der Blockflöte. Die Notenschrift hatte sie sich innerhalb weniger Wochen beigebracht, mithilfe von Klaviernoten aus der Kirche. Wie alles, wo Symbole und/oder Zeichensysteme im Spiel waren, war ihr auch das gar nicht schwergefallen; sie hatte keine Ahnung, woher das kam und wozu eine solche Fähigkeit gut sein sollte, und auch nicht, warum ihre Schwester Cheryl nicht mit einer ähnlichen Gabe gesegnet war, oder was sie dagegen beziehungsweise damit unternehmen sollte, ob dieses »Etwas« als Verb oder als Substantiv zu denken war und ob es außerhalb ihres Kopfes überhaupt irgendeine greifbare Realität besaß. Die beiden Mädchen schrieben ein Lied für den Glaubenskreis der unter Zwölfjährigen, der sich jeden Donnerstag nach dem Gottesdienst hier im Hinterzimmer traf. Sie waren gut befreundet, Keisha und Layla, wenn auch nicht ganz so eng wie Keisha und Leah. Sie verband nun mal kein dramatisches Ereignis, auch wenn sie in den Augen der Kirche ganz natürlich und unausweichlich zusammengehörten. » Leading the way «, sang Layla. Keisha notierte. Sie roch ihre Scheide an den Fingern. Layla ging wieder zum Sprechen über: »Oder vielleicht etwas Richtung: › Sisters today, leading the way ‹«. Keisha notierte auch das und setzte es in Klammern, um zu markieren, dass es als Text noch nicht in Stein gemeißelt war. Wenn das »Talente« waren – die Fähigkeit zu singen oder in kürzester Zeit Noten lesen und schreiben zu können –, was war dann eigentlich ein »Talent«? Ein Rohstoff? Eine Gabe? Ein Preis? Eine Belohnung? Wofür? » We follow the truth, we follow the light! «, sang Layla, was musikalisch und textlich bereits in Stein gemeißelt war. Ohne etwas zum Notieren zu haben, wurde Keisha unruhig. An der Wand gegenüber hing ein Spiegel. Zwei bewundernswerte junge sisters , deren Mütter ihnen noch Zöpfe flochten, saßen auf dem Rand der provisorischen Bühne, die eine sang, die andere machte aus der Melodie ein Abbild, die Notenschrift. Das bist du. Das ist sie. Sie ist echt. Du bist die Fälschung. Schau hin. Schau weg. Sie ist stimmig. Du improvisierst aus dem Moment heraus. Sie darf es nie erfahren. »Und dann von da nach da«, sang Layla, sie sang die Worte und machte damit die Anweisung selbst zu Musik. Und Keisha notierte.
31. Zutrittserlaubnis
    Obwohl sie zu fünft waren, beschränkte sich die Wohnung der Blakes auf drei Zimmer mit Bad und Wohnraum, und nur Jayden, der Jüngste, besaß ein eigenes Zimmer. Soweit Keisha das beurteilen konnte, spielte Privatsphäre für ihren Bruder keine Rolle, er war elf und hatte noch periodische Anfälle von häuslichem Nudismus, aber was sie betraf, so war das unerlässlich und wurde mit jedem Tag unerlässlicher, und das Eintreffen des Dildos veranlasste sie dazu, eine alte Diskussion mit ihrer Mutter wiederaufzunehmen.
    »Es ist ein Menschenrecht!«, rief Keisha Blake. GCSE , Geschichte, Modul B 16: Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung . Modul D 5: Die Chartisten .
    »Und wenn ein Feuer ausbricht, verbrennst du in deinem Zimmer«, sagte ihre Mutter. »Ist das Cheryls Idee? Leute, die sich einschließen wollen, haben immer was zu verbergen.«
    »Leute, die sich einschließen wollen, verlangen nur ein grundlegendes Menschenrecht, nämlich Privatsphäre. Schlag’s nach«, erwiderte Keisha, wenn auch diesmal weniger ungestüm, erschrocken darüber, dass ihrer Mutter im Kielwasser eines gewöhnlichen mütterlichen Klischees so zielsicher die Wahrheit ins Netz ging. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und dachte an Jesus, noch

Weitere Kostenlose Bücher