London NW: Roman (German Edition)
zu schlafen, hatte sich das als rein formale Schwelle entpuppt. Sie hatte nichts Neues über Rodneys Körper erfahren und auch nichts über Rodney, dafür eine ganze Menge über Kondome: wie effektiv sie jeweils waren, wie dick das Gummi sein durfte, und wann der richtige – der sicherste – Moment war, sie hinterher wieder abzustreifen.
57. Ehrgeiz
Sie wollten Juristen werden, die ersten Akademiker in ihren beiden Familien. Das Leben hielten sie für ein Problem, das sich mit der richtigen akademischen Ausbildung lösen ließ.
58. Leahs dritter Besuch
Frühjahr. Bäume in voller Blüte. Ms Blake wartete am Busbahnhof der Vorfreude und Hoffnung und wusste überhaupt nicht mehr, wie sie hinsichtlich Leah Hanwell, ihrer liebsten Freundin von früher, jemals irgendwelche Spannungen hatte empfinden können. Der Bus traf ein, die Türen öffneten sich. Menschliche Gestalten mit Gesichtern strömten ins Blickfeld, und Ms Blakes Hirn suchte nach einer Übereinstimmung zwischen einer recht aktuellen Erinnerung und der materiellen Wirklichkeit. Sie machte den Fehler, an Vorstellungen festzuhalten, die eigentlich zu früheren Besuchen gehörten. Vorstellungen wie »rotes Haar« und »schwarze Jeans/schwarze Stiefel/schwarzes T-Shirt«. Moden ändern sich. Das Studium ist eine Phase der Experimente und Wandlungen. Die Person, die sie schließlich an der Schulter fasste, konnte nicht mehr als Mitglied einer Riot-Grrrl-Band durchgehen oder als unbedeutende Berliner Künstlerin. Sie war jetzt eine schmutzig blonde Kriegerin im Dienste des Planeten, deren Haare auf dem Weg zu Dreadlocks waren und deren Armeehose keinem Appell standgehalten hätte.
59. Eigennamen
Natürlich waren auch Ms Blake die Weißen aufgefallen, die mit Kletterausrüstung herumliefen, und die Weißen, die sich im Treppenhaus zusammenrotteten und darüber diskutierten, wie man sich am besten an eine Eiche kettete. Sie war dem Phänomen mit ihrer üblichen anthropologischen Neugier begegnet. Aber sie hatte es doch eher als neue Ästhetik betrachtet, nicht als echten Protest. Die Einzelheiten des Projekts wurden ihr nicht recht klar. »Das ist Jed«, sagte Leah, »und das sind Katie und Liam, und das ist Paul. Leute, das hier ist Keisha, sie …« »Nein. Natalie.« »Sorry, das ist Natalie, wir sind zusammen zur Schule gegangen«, sagte Leah. »Sie studiert hier, sie ist Juristin. Ist das schräg, euch hier zu treffen!« Als Leah diesen Leuten eine Runde Bier anbot – »Nein, bleibt sitzen, das geht auf uns« –, geriet Natalie Blake in Panik, denn ihr Budget war äußerst streng kalkuliert und ließ keinen Raum, um irgendwelchen Pennern, mit denen sie noch nie ein Wort gewechselt hatte, eine Runde zu schmeißen. Doch an der Theke wedelte Leah mit einem Zwanziger, und Natalies Aufgabe beschränkte sich darauf, sechs Pintgläser auf einem runden Tablett unterzubringen, das eigentlich nur für fünf gedacht war.
»Lee, woher kennst du die denn überhaupt?«
»Aus Newbury!«
60. Und es fiel von ihren Augen wie Schuppen
Anscheinend war es wichtig, »dauerhaft Druck zu machen«, um die Regierung am Bau der Umgehungsstraße zu hindern. Rodney hörte sich das alles an und deutete dann nur auf die Bücher auf seinem Schreibtisch, die das eindrucksvolle Gewicht der Rechtsprechung verkörperten, mehrere Tausend Seiten dick, mit erbarmungslos nüchternen Einbänden. Leah änderte ihre Taktik: »Eigentlich ist das ja ein Rechtsproblem – es sind jede Menge Jurastudenten mit dabei. Das ist eine gute Erfahrung, Rodney, das muss doch sogar dir klar sein, selbst Richter Rodney vom Großen Weltgericht.« Natalie Blake merkte, dass sie lächelte. In diesem Moment konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihrer guten Freundin Leah Hanwell auf einem Baum zu hocken, viele Hundert Kilometer weit weg von diesem bedrückenden Zimmer. Rodney sah von seinen zivilrechtlichen Präzedenzfällen auf. Seine Miene war unerbittlich. »Wir interessieren uns nicht für Bäume, Leah«, sagte er. »Den Luxus kannst du dir leisten. Wir haben keine Zeit, uns für Bäume zu interessieren.«
61. Coup de foudre
»Mr De Angelis, wenn Sie bitte ab ›die Macht der Gewohnheit‹ weiterlesen würden – auf der nächsten Seite oben«, sagte Professor Kirkwood, und in der ersten Reihe erhob sich ein außergewöhnlicher junger Mann. Er war kein Jurastudent, trotzdem saß er hier in der Rechtsphilosophie-Vorlesung. Er setzte sich aus Einzelteilen zusammen, die Natalie für miteinander
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