London NW: Roman (German Edition)
irgendwem.
71. Als sie Leah half, den schweren Rucksack die Busstufen hochzuwuchten
Verspürte Natalie Blake den Drang, ihrer Freundin von dem exotischen brother zu berichten, den sie in Kirkwoods Kurs gesehen hatte. Sie schwieg. Jenseits der schlichten Tatsache, dass die Bustüren sich bereits schlossen, fürchtete sie, was der klaffende sozioökonomische Unterschied zwischen Frank De Angelis und Rodney Banks ihrer Freundin Leah Hanwell wohl über sie, Natalie Blake, sagen würde, rein psychologisch und als Mensch.
72. Roman(t)ische Sprachen
Viele der Männer, mit denen sich Natalie Blake nach Rodney Banks einließ, waren ihr in sozioökonomischer und kultureller Hinsicht ebenso fremd wie Frank und zogen sie sehr viel weniger an, trotzdem ging sie nicht auf Frank zu und er nicht auf sie, obwohl sie einander sehr deutlich wahrnahmen. Etwas poetischer könnte man es folgendermaßen formulieren:
»Ihr Weg führte so unausweichlich aufeinander zu, dass er allerhand Abzweigungen auf der Strecke begünstigte.«
73. Ich allein verfasse
Prosaischer gesprochen war Natalie Blake wie verrückt damit beschäftigt, sich selbst neu zu erfinden. Sie streifte Gott so reibungs- und schmerzlos ab, dass sie sich fragen musste, was sie eigentlich bisher mit diesem Wort gemeint hatte. Dafür entdeckte sie die Politik und die Literatur, die Musik, das Kino. »Entdecken« ist nicht das richtige Wort. Sie glaubte felsenfest an diese Dinge und konnte nicht begreifen, wieso praktisch alle ihre Kommilitonen sie – just in dem Moment, da sie, Natalie Blake, sie wahrnahm – als tot abtaten. Wenn andere Studenten sie nach Frank De Angelis fragten – sie war nicht die Einzige, der auffiel, wie gut sie grundsätzlich zusammenpassten –, erklärte sie, er sei ihr viel zu arrogant und eingebildet und vornehm und in seiner Rassenidentität verwirrt und ganz und gar nicht ihr Typ, und dennoch gewann das stumme, unsichtbare Band zwischen ihnen immer mehr an Kraft, denn wen, wenn nicht Frank De Angelis – oder jemanden, der ganz genauso war wie Frank De Angelis –, hätte sie bitten können, sie auf dem sonderbaren Lebensweg zu begleiten, der vor ihr lag?
74. Sichtung
Fünf Reihen vor ihr bei der Spätvorstellung von Orfeu Negro sah er zu seinem Doppelgänger hoch.
75. Aktionismus
Natalie radelte den University Walk entlang, als ihr ein junger Mann, mit dem sie schlief, in den Weg trat und sie am Weiterfahren hinderte. Er wirkte wie im Fieber, und Natalie dachte erst, er wolle ihr unsterbliche Liebe schwören. »Hast du eine halbe Stunde?«, fragte Imran. »Ich will dir was zeigen.« Natalie wendete ihr Fahrrad zur Woodland Road und machte es vor Imrans Studentenwohnheim fest. In seinem kleinen Zimmer hockten zwei weitere Mädchen aus ihrem Jahrgang und ein Doktorand, den sie nicht kannte. »Das ist die Aktionsgruppe«, erklärte Imran und schob ein Video in den Rekorder. Natürlich war Natalie über den Bosnienkonflikt informiert, aber man muss doch gerechterweise sagen, dass dieser Krieg sie nicht vorrangig beschäftigte. Sie sagte sich, es müsse wohl daran liegen, dass sie keinen Fernseher besaß und den Großteil ihrer Zeit in der Bibliothek verbrachte. Zwei Jahre zuvor war es ganz ähnlich gewesen, als ihr durch ein und denselben Zeitungsartikel bewusst wurde, dass es ein Land namens »Ruanda« gab und dass dort ein Völkermord stattfand. Jetzt saß sie im Schneidersitz auf dem Boden, sah Soldaten aufmarschieren, lauschte der Aufnahme, in der dieser Verrückte herumbrüllte, und las die Untertitel, in denen es um rassische Säuberung und ein Fantasieland namens »Großserbien« ging. Und das passierte jetzt? Jetzt gerade? Am Ende der Geschichte? Sie dachte daran, wie oft sie und Leah schon überlegt hatten – einfach nur als Gedankenspiel –, was sie wohl getan hätten, wenn sie 1933 in Berlin gewesen wären. »Wir wollen einen Krankenwagen mit Hilfsgütern nach Sarajewo fahren«, sagte Imran. »Um beim Wiederaufbau zu helfen. Komm doch mit.« Das kam einem Verstoß gegen das erste Gebot in Natalie Blakes Familie gleich: Du sollst dich nie ohne Not körperlichen Gefahren aussetzen.
Die nächsten paar Wochen warf sich Natalie voller Engagement in die Organisation der Reise und schlief mit Imran, und Jahre später erschien ihr diese Phase wie eine Art Kristallisationspunkt aller radikalen Möglichkeiten ihrer Jugend. Sex, Protest und Reiselust vereint. Dass sie die eigentliche Reise nie antrat, war im Rückblick gar nicht so wichtig
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