London NW: Roman (German Edition)
gelagerte, sogar noch kostspieligere Problematik sprach gegen Edinburgh.
46. Unterbrechung für einen abstrakten Gedanken
Überall auf der Welt, in zahllosen Sprachen, fällt in Familien irgendwann der Satz: »Du bist mir fremd geworden.« Er war schon immer da, hielt sich versteckt in einer verschwiegenen Ecke des Hauses, geduldig wartend. Unter den gestapelten Tassen, zwischen den DVD s oder irgendwelchen anderen heillosen Datenträgern. »Du bist mir fremd geworden!«
47. Noch eine Unterbrechung
In populärwissenschaftlichen Zeitschriften findet sich ein Beispiel aus der Biologie, die Regeneration von Zellen. Viele Jahre nach den aktuell geschilderten Ereignissen, bei einer ihrer häuslichen Abendeinladungen, schlug ein Philosoph, der zur Rechten unserer Heldin saß, ihr vor, sich auf ein gedankliches Experiment einzulassen: Was, wenn die eigenen Gehirnzellen nach und nach gegen die Gehirnzellen eines anderen Menschen ausgetauscht würden? Von welchem Punkt an war man dann nicht mehr man selbst? Von welchem Punkt an war man der andere Mensch? Er roch schlecht aus dem Mund. Er legte ihr eine Hand aufs Knie, die sie nicht wegschob, weil sie vor seiner Frau keinen Aufstand machen wollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ms Blake bereits gelernt, sich absolut vorbildlich zu benehmen. Die Frau des Philosophen war eine ergraute Kronanwältin. Dem brillanten Kopf des Philosophen erschien sie viel zu alt, um noch als seine Frau gelten zu können. Und dennoch.
48. Mieterversammlung
Bei einer Versammlung der Mietervereinigung von Caldwell – Leah und Keisha waren, auf Nötigung ihrer Eltern, die einzigen jüngeren Anwesenden – sah Keisha den freien Platz neben Leah, ging aber nicht hin. Hinterher versuchte sie, unbemerkt zu verschwinden, doch Leah Hanwell rief quer durch den Raum nach ihr, und Keisha drehte sich um und sah das vertraute, offene Gesicht, das sie anlächelte, ungeachtet aller Versuche seitens Keisha Blakes, es innerlich zu verleugnen.
»Hey«, sagte Leah Hanwell.
»Na«, sagte Keisha Blake.
Sie sprachen über die langweilige Versammlung und über Cheryls Baby, doch das andere Thema ließ sich nicht lange umschiffen.
»Wie hat’s dir denn in Manchester gefallen? Hast du Michael Konstantinou getroffen? Der war am selben Tag dran wie du. Aber er macht Medienwissenschaft.«
»Wir wollen da nicht mehr hin«, sagte Keisha Blake und betonte das Pluralpronomen ganz bewusst. »Es wird entweder Bristol oder Hull.«
»Rodney ist bei mir in Geschichte. Sagt keinen Ton.«
Keisha, die diese Bemerkung als persönliche Beleidigung auffasste, machte sich daran, Rodney energisch zu verteidigen. Leah sah sie verwirrt an und spielte an den drei Ringen, die sie am oberen, knorpeligen Teil des Ohrs trug.
»Nein, ich meinte: Er hat gar keine Fragen, er weiß immer alles schon. Still, aber gefährlich. Ihr zwei schafft das doch locker. Du kannst immerhin beim GCSE ein C in Mathe vorweisen. Ich hab nicht mal bestanden. Die meisten fragen gar nicht erst nach den Abschlussnoten, wenn man mal in Mathe durchgefallen ist. Da müsste ich echt wahnsinniges Glück haben.«
Keisha versuchte, ihre Überreaktion herunterzuspielen, indem sie vorschlug, ihre alte Freundin Leah Hanwell könne doch mit Keisha und ihrem neuen Freund zusammen lernen.
»Ich muss mich wahrscheinlich einfach nur hinsetzen und mich konzentrieren. Das wird schon. Wär aber schön, dich bald noch mal zu sehen, bevor wir umziehen. Pauline ist ganz begeistert. Mir ist das egal. Ab September bin ich eh in Edinburgh – wollen wir zumindest hoffen. Sie führt sich auf, als würde sie mir ein Riesengeschenk machen. Ein neues Leben. ›Das ist ja praktisch schon Maida Vale. Na, besser spät als nie, nicht?‹« Letzteres sagte sie mit Paulines Stimme.
49. Aufstieg
Die Hanwells zogen in eine Maisonettewohnung. Praktisch in Maida Vale. Keisha hatte das alles schon von Marcia gehört: der Gemeinschaftsgarten, die drei Schlafzimmer. Ein sogenanntes »Arbeitszimmer«.
50. Rodney notiert
»Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung.« (Nietzsche)
51. Unentdeckt
Rodney Banks sorgte weder für Unruhe im Unterricht noch sagte er viel, und die Kombination aus beidem machte ihn unsichtbar, anonym. Keisha Blake fragte ihn, warum er nie mit den Lehrern rede. Er sagte, das sei Strategie. Wie Keisha hatte er eine Vorliebe für Strategien. Das gehörte zu ihren Gemeinsamkeiten, wobei man festhalten muss, dass ihre Strategien sich im Kern doch sehr unterschieden. Keisha
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