London NW: Roman (German Edition)
verabscheuten das Einzige, womit sie sich wirklich auskannte: die Bibel. Abends saßen Rodney und Keisha einander an dem kleinen Schreibtisch in Keishas Zimmer gegenüber und lernten, so wie sie für den Schulabschluss gelernt hatten: Sie steckten sich Ohropax in die Ohren und schrieben alles mit der Hand, erst ins Unreine und dann noch einmal in »Schönschrift« – das hatten sie sich in der Sonntagsschule angewöhnt. Im Keller von Keishas Wohnheim gab es ein neu eingerichtetes Computerzentrum, das ihnen das Leben hätte erleichtern können: In der ersten Woche gingen sie hinunter und sahen es sich an. Ein Junge mit Hut, von dessen breiter Krempe ein Kinnriemen hing, spielte sich durch Doom , diesen düsteren Korridor, der immer und immer wieder auf sich selbst zurückführt. Alle anderen waren entweder mit Programmieren beschäftigt oder verwendeten eine frühe universitätsinterne Form von E-Mail. Über jemandes Schulter hinweg sah Keisha Blake einen völlig chaotischen Bildschirm.
55. Keishas erster Besuch
Ihre materiellen Lebensumstände unterschieden sich deutlich. Keisha war in einem Sechzigerjahre-Wohnheim ohne jede architektonische Bedeutung untergebracht, Leah in einem Reihenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einem stillgelegten Kamin in jedem Zimmer und neun Mitbewohnern. Anstelle eines Wohnzimmers gab es dort einen Raum zum »Chillen«. Riesige Lautsprecher, kein Sofa. Keisha hatte nicht mit einer Party an ihrem ersten Abend gerechnet und trug auch nicht den richtigen Rock für einen Sitzsack. Die Lautstärke des Techno oder was da auch immer lief, machte Gespräche zur Qual. Alle waren weiß. Leah schwang eine Rede und hielt dabei die Kühlschranktür auf. Die ganze Küche wurde kalt davon. Sie hielt den Kühlschrank schon eine ganze Weile auf. Warum, hatte sie anscheinend vergessen.
»Also, stell dir vor, du bist Einstein, und du denkst so vor dich hin, von Moment zu Moment, und plötzlich hast du diesen Wahnsinnsgedanken über das Wesen des Universums oder so. Dieser Gedanke ist dann nicht mehr wie die anderen Momente, denn obwohl du ihn innerhalb der normalen Zeit gehabt hast, geht es darin doch um das Wesen des Universums, und das ist sozusagen unendlich. Es ist also eine völlig andere Sorte Moment. Und so was nennt Kierkegaard einen ›Augenblick‹. Der gehört nicht zur normalen Zeit wie alles andere. Solchen Kram kriege ich ständig zu hören. Ich muss mich in den Kursen immer kneifen. So nach dem Motto: Was mach ich hier eigentlich, zwischen diesen ganzen superschlauen Spinnern? Da ist doch irgendwo ein Fehler im System.«
Keisha häufte etwas Hummus auf ihr Pide und sah in die vergrößerten Pupillen ihrer Freundin.
»Ich hatte zwischendurch auch mal an Philosophie gedacht«, sagte Keisha, »bis ich gehört habe, dass man dafür so viel Mathe braucht.«
»Man braucht gar kein Mathe«, sagte Leah.
»Echt nicht? Ich dachte, man braucht Mathe.«
»Nein«, sagte Leah und drehte sich von Keisha weg, um doch noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen. »Braucht man nicht.«
Auch der Typ, der mit Leah schlief, war schwierig. Wenn man ihm nicht ständig Fragen über ihn oder seine Kurzfilme stellte, hörte er ganz auf zu reden und starrte ins Leere.
»Es geht um Langeweile«, erklärte er.
»Hört sich interessant an«, sagte Keisha Blake.
»Nee. Im Gegenteil. Diese Party hier, mit diesen ganzen interessanten Leuten, ist das beste Beispiel. Völlig uninteressant.«
»Oh.«
»Alles dreht sich nur um Langeweile. Ein anderes Thema gibt’s nicht mehr. Wir langweilen uns alle. Langweilst du dich nicht?«
»In Jura«, sagte Keisha Blake, »muss man alles mögliche langweilige Zeug auswendig lernen. So wie in Medizin.«
»Ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Sachen«, sagte der Typ, der mit Leah schlief.
56. Familienroman
Draußen auf dem Gang klingelte das Telefon. Rodney nickte. Keisha stand auf. Wenn das Telefon klingelte, war es meistens entweder für Rodney oder für Keisha – entweder Marcia oder Christine –, und sie wechselten sich damit ab, die Anrufe entgegenzunehmen. Sie waren in jeder Hinsicht wie Geschwister, abgesehen davon, dass sie gelegentlich Sex hatten. Dieser Sex war kuschlig und vertraut, ohne jeden Anklang von Erotik oder vaginalen respektive klitoralen Orgasmen. Rodney war ein vorsichtiger junger Mann, Kondome waren ein wichtiges Thema für ihn, er fürchtete Schwangerschaften und Krankheiten. Als er Keisha Blake endlich erlaubte, mit ihm
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