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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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unvereinbar hielt und in ihrer Gesamtheit nur schwer nachvollziehbar fand. Er hatte eine Ansammlung überraschender Sommersprossen. Seine Nase war auffallend lang und ausdrucksvoll, auf eine Weise, die sie, hätte sie mehr gewusst, als »römisch« bezeichnet hätte. Sein Haar war zu Dreadlocks gedreht, die das genaue Gegenteil von Leahs Dreadlocks waren, fast makellos. Sie umrahmten sein Gesicht ordentlich und endeten gleich unterhalb des Kinns. Er trug eine leichte Stoffhose, keine Strümpfe und diese Schuhe, durch deren Seiten Schnur gefädelt ist, einen blauen Blazer und ein rosa Hemd. Ein unbeschreiblicher Akzent. Als wäre er irgendwo in der Karibik auf einer Jacht geboren und von Ralph Lauren großgezogen worden.
62. Montaigne
    Es gibt ein Land, da stellen die Jungfrauen ihre Schamteile unverhüllt zur Schau, während verheiratete Frauen sie sorgfältig verhüllen. Anderswo bieten sich Männer in öffentlichen Bordellen feil. Und wieder anderswo trägt man schwere Goldstangen durch Brüste und Gesäßbacken gezogen, und die Männer wischen sich nach dem Essen die Hände am Hodensack ab. Mancherorts lebt man von Menschenfleisch. Andernorts entscheidet der Vater, während das Kind noch im Mutterleib ist, ob es behalten und großgezogen oder ausgesetzt und getötet werden soll. Kirkwood hob die Hand, um die Erzählung zu unterbrechen. »Selbstverständlich«, sagte er, »halten all diese Leute ihre jeweiligen Gewohnheiten für völlig alltäglich.« Ein paar Studenten lachten. Natalie Blake und Rodney Banks waren noch damit beschäftigt, den Essay in der Billigausgabe ausfindig zu machen, die sie sich teilten (meist kauften sie zusammen nur ein Lehrbuch, und wenn sie damit durch waren, brachten sie es gleich wieder in eines der Antiquariate neben der Universitätsbibliothek). Der Titel schien weder im Inhaltsverzeichnis noch im Index enthalten zu sein, und der Umstand, dass sie nach wie vor nicht miteinander redeten, erleichterte die Zusammenarbeit nicht gerade. »Welche Lektion ist hier für den Juristen enthalten?«, fragte Kirkwood. Der bemerkenswerte junge Mann meldete sich. Selbst von ihrem Platz aus sah Natalie Blake den Schmuck an seinen braunen Fingern und die elegante Uhr mit dem Krokodillederarmband, die älter als Kirkwood aussah. Er sagte: »Selbst wenn man mit allen möglichen Vernunftgründen bewaffnet vor Gericht aufläuft, leben wir doch in einer vernunftwidrigen Welt.« Natalie Blake versuchte zu ergründen, ob das eine Antwort von Interesse war. Kirkwood schwieg kurz, lächelte und sagte: »Sie haben ein großes Vertrauen in die Vernunft, Mr De Angelis. Aber denken Sie mal an unser Beispiel von letzter Woche. Hunderte von Zeugen treten in den Zeugenstand: gute Freunde, einstige Lehrer, einstige Ammen, einstige Geliebte. Und alle sagen sie: Das ist Tichborne . Sogar die Mutter des Mannes tritt auf und deutet auf ihn: Das ist mein Sohn . Die Vernunft sagt uns, dass der Anwärter sechzig Kilo schwerer ist als der Mann, der er zu sein vorgibt. Die Vernunft sagt uns, dass der echte Tichborne Französisch konnte. Und dennoch. Und wenn tatsächlich die Vernunft obsiegt hätte, wieso hat dann das Volk auf den Straßen randaliert? Vertrauen Sie nicht zu sehr auf die Vernunft. Wissen Sie, ich glaube, Montaigne ist da skeptischer. Ich glaube, ihm geht es gar nicht darum, dass Sie als Juristen vernünftig sind und die anderen, das Volk, unvernünftig, oder auch nur darum, dass die Gesetze, denen sich ein Volk unterwirft, unvernünftig wären, sondern dass diejenigen, die sich den althergebrachten Gesetzen unterwerfen, zumindest das Argument von ›Schlichtheit, Gehorsam und überkommnen Vorbildern‹ für sich haben – sehen Sie die Formulierung? Unten auf der dritten Seite? Während diejenigen, die versuchen, sie, also die Gesetze, zu ändern, meist auf irgendeine Weise grausig sind, geradezu monströs. Wir betrachten uns alle als die perfekte Ausnahme.« Natalie Blake kam nicht mehr mit. Der junge Mann nickte langsam und anerkennend, so wie man jemand Ebenbürtigem zunickt. Sein Selbstvertrauen schien ungerechtfertigt, es ergab sich aus nichts, was er gesagt oder getan hätte. Ein Blatt wanderte durch den Raum. Die Studenten waren angehalten, ihren vollen Namen daraufzuschreiben und den Fachbereich, dem sie angehörten. Noch bevor sie ihren eigenen Namen hinschrieb, suchte Natalie Blake nach seinem.
63. Erkundungsmission
    Francesco De Angelis. BWL im zweiten Studienjahr. Allgemein »Frank« genannt.

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