London Road - Geheime Leidenschaft
Freitagabend, und in der Bar herrschte Hochbetrieb. Ich war ein bisschen zu spät gekommen und hatte eigentlich keine Zeit, mit Joss und Alistair, der für Craig eingesprungen war und bereits hinter der Theke stand, zu plaudern. Ich war nur während einer kurzen Flaute in den Pausenraum gehuscht, um Saft und Kaugummi aus meiner Handtasche zu holen. »Wie bitte?«
Joss lehnte mit zerknirschtem Gesicht im Türrahmen. Die wummernde Musik aus der Bar verfolgte uns bis hierher. »Ich habe Braden erzählt, was ich gestern Abend zu dir gesagt habe, und er meinte, ich hätte dich überfahren.«
Ich lächelte verhalten. »Ein bisschen vielleicht.«
»Er meinte, ich muss noch viel lernen.«
Ich zog eine Braue hoch. »Er offensichtlich auch.«
»Das kannst du laut sagen«, schäumte Joss. »Er hat einen blauen Fleck am Arm so groß wie meine Faust. Überheblicher Arschclown.« Sie zuckte die Achseln. »Aber, na ja, möglicherweise hatte er … Ich meine ja nur … ein klitzekleines bisschen recht.«
Sie druckste so verlegen herum, dass es fast komisch war. »Joss, du wolltest nur eine gute Freundin sein.«
»Braden findet, ich muss geschickter vorgehen. Das beinhaltet unter anderem, dass ich niemals das Wort ›Nutte‹ in den Mund nehme.«
Ich zuckte zusammen. »Ja, das wäre vielleicht ein ganz guter Anfang.«
Joss machte einen Schritt auf mich zu. Ihre Selbstsicherheit schien schlagartig von ihr abzufallen. »Ich habe mich gestern blöd ausgedrückt. So war das nicht gemeint. Das weißt du doch, oder?«
»Heißt das zufällig, dass du dich ab jetzt aus meinen Angelegenheiten raushältst?«
»Ha!«, lachte sie. »Träum weiter.«
»Joss …«
»Ich gehe ab jetzt einfach unauffälliger vor. Weniger überfahren, mehr lenken.«
Schon wieder dieses Wort. »Weißt du, wenn es unauffälliger sein soll, ist es doch vielleicht keine so gute Idee, mir vorher zu sagen, dass du mich davon abhalten willst, ›in mein Unglück zu rennen‹.« Ich malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
Joss verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich drohend an. »Mach dich ja nicht über mich lustig, Fräulein.«
Ich hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände. »War ja bloß ein Vorschlag.«
»Ladys!« Alistair steckte den Kopf zur Tür herein. »Wie wär’s mit ein bisschen Unterstützung hier draußen?«
Ich schnappte mir meinen Kaugummi und schlängelte mich an Joss vorbei aus dem Pausenraum. Ich musste grinsen, weil ich genau wusste, was ihr wirklich durch den Kopf ging. »Ich bin nicht sauer auf dich, okay?« Ich drehte mich nach ihr um und sah, dass sie mir folgte.
Sie nickte und zuckte beiläufig mit den Achseln, als wäre es ihr vollkommen schnuppe – was natürlich nicht der Fall war. Und genau deshalb war ich nicht mehr sauer auf sie. »Okay, cool.«
Wir nahmen unsere Positionen hinter der Bar ein, die über die ganze Länge von Gästen belagert wurde.
»Du kommst doch mit Cole am Sonntag zum Essen, oder?«
Grinsend dachte ich an die Familie Nichols und an Elodies köstliche Braten. »Das würden wir um nichts in der Welt versäumen.«
Die Familie Nichols lebte in einem Zuhause, wie ich es mir für Cole und mich gewünscht hätte. Nicht weil es ein atemberaubender Altbau in Stockbridge war – obwohl das natürlich auch nicht schlecht gewesen wäre –, sondern weil man dort Wärme und echten Familienzusammenhalt spürte.
Elodie Nichols war Ellies Mutter. Als junge Frau hatte sie sich in Douglas Carmichael, Bradens Vater, verliebt und war von ihm schwanger geworden. Douglas hatte sich kurze Zeit später von ihr getrennt, sie aber weiterhin finanziell unterstützt und halbherzig seine Vaterrolle ausgefüllt, bis sein Sohn Braden ihn irgendwann darin abgelöst hatte. Er hatte sich seiner jüngeren Halbschwester Ellie angenommen und war für sie zu einer Art Ersatzvater geworden. Die beiden standen sich sehr nahe – so nahe, dass Bradens Beziehung zu Elodie und ihrem Mann Clark enger war als zu seiner eigenen Mutter. Bradens Vater war vor einigen Jahren gestorben. Er hatte Ellie einen Batzen Geld und Braden die Firma hinterlassen.
Ellie hatte noch zwei unheimlich nette Halbgeschwister: Hannah, die anderthalb Jahre älter war als Cole, und den elfjährigen Declan. Erwartungsgemäß verbrachten die beiden scheuen Teenager Cole und Hannah kaum Zeit miteinander, allerdings wurde Cole ohnehin meistens komplett von Declan vereinnahmt, der ein umfangreiches Sortiment an Videospielen besaß, so dass sie
Weitere Kostenlose Bücher