London Road - Geheime Leidenschaft
wie ich. Er war ein kluger Junge, der mit seinen Eltern schreckliches Pech gehabt hatte. Dadurch hatte er diesen müden Blick, der ihn älter wirken ließ, als er war. Es schmerzte mich, dass mein kleiner Bruder so schnell hatte erwachsen werden müssen.
Natürlich war dies nicht das erste Mal, dass er mir dabei half, unsere Mutter ins Bett zu bringen.
Sobald wir sie aufs Bett gehievt hatten, steckte ich die Decke um sie herum fest, um den gesundheitlichen Schaden, den sie durch das Liegen auf dem kalten Boden vielleicht genommen hatte, so gering wie möglich zu halten. Als ich überzeugt war, dass sie es warm genug hatte, schlüpfte ich aus dem Schlafzimmer und gesellte mich zu Cole in den Flur.
Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Ich war so müde und so traurig.
Er bemerkte meine gedrückte Stimmung, und einen Moment lang war sein Gesicht voller Mitgefühl, bevor ein breites Grinsen seine Miene erhellte. »Ich hab eine Idee für ein neues Fitness-Programm. Damit könnten wir jede Menge Kohle machen.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über meine Lippen. »Lass hören.«
»Es nennt sich ›Säufermutter‹ und besteht aus Gewichtheben plus Cardiotraining.«
Ich starrte ihn einen Moment lang an, bis mir klarwurde, dass er einen Witz gemacht hatte, dann begann ich wie verrückt zu kichern und zog ihn in die Arme. Tränen brannten in meinen Augen, als er mich ganz fest drückte.
Er war mein Ein und Alles.
Ich hätte nicht gewusst, was ich ohne ihn machen sollte.
Kapitel 9
A ls ich aufwachte, war es bereits heller Vormittag. Ich kuschelte mich in meine Decke und wollte nicht aufstehen. Um Heizkosten zu sparen, hatte ich den Thermostat so eingestellt, dass die Heizung nur zwei Stunden am Morgen und dann erst wieder ab siebzehn Uhr lief. Außerhalb meines warmen Kokons war es eisig, und ich stöhnte, weil es so unfair war, dass ich raus in die Kälte musste.
Cole hatte mich kurz zuvor geweckt, um mich daran zu erinnern, dass er mit Jamie verabredet war und den ganzen Tag und die Nacht bei seinem Freund verbringen würde. Ich wusste noch, dass ich gemurmelt hatte, er solle sich zwanzig Pfund für den Notfall aus meinem Portemonnaie nehmen, dann war ich wieder eingeschlafen.
Ich schielte zum Wecker auf dem Nachttisch. Halb elf. Wirklich Zeit, aufzustehen. Ich musste noch einkaufen, und dann musste ich mich für meinen großen, höllischen Abend mit Becca und Cam in Schale werfen.
Igitt.
»Okay. Eins, zwei, drei«, zählte ich. Bei »drei« warf ich die Decke zurück und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Das war die einzige Methode, die bei mir funktionierte. Hätte ich versucht, langsam Stück für Stück unter der Decke hervorzukriechen, wäre ich sofort wieder eingeschlafen. Bibbernd und sehnsüchtig blickte ich auf meine Matratze.
Dann rannte ich in den Flur, um den Boiler für die Dusche einzuschalten. Eine Tasse Tee wärmte mich, während ich auf das heiße Wasser wartete, und ich öffnete die Tür zu Mums Schlafzimmer, um nach ihr zu sehen.
Sie war wach.
»Morgen.«
»Morgen«, brummte sie und zog die Bettdecke fest um sich. »Scheißkalt hier.«
Möglicherweise liegt es ja daran, dass du Gott weiß wie lange völlig dicht auf dem Küchenfußboden gelegen hast. »Willst du eine Tasse Tee und einen Toast?«
»Ja, das wär nett, Schatz.« Sie rutschte noch tiefer unter die Decke und rollte sich zusammen.
Nachdem ich ihr Tee und Toast gebracht und mich davon überzeugt hatte, dass sie es auch wirklich aß, überließ ich sie wieder sich selbst und machte mich fertig. Außer Lebensmitteln musste ich noch eine Geburtstagskarte für Angie besorgen, meine Freundin aus dem Frisörsalon, in dem ich vor Jahren gearbeitet hatte. Vor Joss hatte ich eigentlich keine richtigen Freundinnen gehabt, weil … Na ja, weil ich zu viele Geheimnisse hatte, aber mit Angie und Lisa aus dem Salon war ich oft um die Häuser gezogen, und sie waren lange so etwas wie meine besten Freundinnen gewesen. Wir hatten uns seit Monaten nicht gesehen, schrieben uns aber regelmäßig SMS.
Ich zog mir meinen Wollmantel über, der in der Taille mit einem Gürtel gebunden wurde, schlang mir einen überlangen Schal um den Hals und zog mir die Uggs über meine Skinny Jeans. Die frisch gewaschenen Haare fielen mir in dichten Wellen den Rücken hinab. Es wäre besser gewesen, sie zu einem Pferdeschwanz zu binden, aber mir graute davor, meine Ohren schutzlos der Kälte auszusetzen. Ich schnappte mir Handschuhe und Tasche und war
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