Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
verhaften, oder dein Liebhaber würde Ralph töten, dachte ich mir. Was auch immer passieren würde, es war ein guter Zug.«
    »Dann hast also du Ralph getötet!«
    »Nein, wahrscheinlich war es Barnikel.«
    »Du bist ein Teufel!«
    »Vielleicht. Aber denke bitte auch daran, daß Ralph nach einer Eheschließung sicher auch Kinder gehabt hätte, und dann wäre die Erbschaft deiner eigenen Kinder nur noch halb so groß.«
    »Man sollte dich verhaften.«
    »Ich habe kein Verbrechen begangen. Das kann man allerdings von dir nicht behaupten!«
    Sie stand auf. Ihr war übel. Sie mußte heraus aus dieser abscheulichen, Halle. Schnell ging sie den Hügel zum Ludgate hinunter, überquerte den Fleet und lief an St. Bride's vorbei. Sie hielt nicht an, bis sie am alten Pier von Aldwych angekommen war. Dort setzte sie sich hin und starrte erst hinüber nach Westminster, dann zur anderen Seite des langen Flußlaufes hinauf zum Tower. Als sie nun an ihre reichen Kinder und an die vergangenen Jahre dachte, stellte sie plötzlich erstaunt fest, daß ihre Wut verflogen war. So also hatte sich die normannische Eroberung auf ihr Leben ausgewirkt.
    Henri hatte inzwischen seine Partie beendet und ein Stück Pergament aus einer Schublade herausgeholt, das er eingehend betrachtete. Es war die Botschaft, die sein Vater kurz vor seinem Tod erhalten hatte. Als Henri sie nun wieder einmal las, kräuselten sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln. In dem Schreiben hieß es, daß die Familie Becket aus der normannischen Stadt Caen vorhatte, nach London umzuziehen.

DER HEILIGE
1170
    EIN JUNIMORGEN IM Palast von Westminster: In dem langen Saal neben der großen Königshalle ging es sehr ruhig zu. An der Tür unterhielten sich ein paar Höflinge leise murmelnd miteinander. In der Mitte des Raums saßen sieben Schreiber an ihren Pulten; Federkiele kratzten leise auf Pergament; die Tinte wurde von den Mönchen der Westminsterabtei zur Verfügung gestellt. Vom hinteren Ende des Raumes kam ein merkwürdiges Klick-Geräusch. Dort saßen einige der wichtigsten Männer von England an einem Tisch und legten Damespielsteine: Wie ernst sie aussahen, der Schatzkanzler, der Justitiar, der Bischof von Westminster, Master Thomas Brown und ihre Sekretäre.
    Der Palast von Westminster. In dem Jahrhundert nach der Eroberung hatte sich die kleine Insel Thorney zu einer königlichen Plattform neben der Themse gemausert. Sie war von einer Mauer umgeben. Mehrere Brücken führten über den Tyburn-Fluß, der um sie herumfloß. Die große Abtei von Eduard dem Bekenner dominierte den Ort noch immer, doch heute stand neben ihr auch eine bescheidene normannische Kirche, St. Margaret.
    Vor einigen Jahren hatte der Papst den Errichter der Abtei heiliggesprochen. Wie Frankreich und andere Länder hatte nun auch England einen königlichen Heiligen. Sein in das Zentrum der Abtei verlegtes Grab wurde zu einem Heiligenschrein, Westminster zum spirituellen Mittelpunkt des Königreichs erklärt.
    Doch unten am Flußufer hatte sich am meisten verändert, denn dort stand die große Halle. Westminster Hall, von Wilhelm II. »Rufus« errichtet, war eine der größten Königshallen in Europa. Das massive Holzdach des über siebzig Meter langen Baus wurde von zwei zentralen Säulenreihen gestützt. Neben der großen Halle befanden sich die Innenhöfe und Säle sowie der Wohnbereich des Königspalastes. Zwar reiste der König normalerweise in seinem ausgedehnten Reich viel herum, doch seine Verwaltung konzentrierte sich immer mehr an diesem Ort. Und von all den verschiedenen Abteilungen war keine bekannter oder gefürchteter als das Gericht, das eben tagte.
    »Dann eben hundert.« Master Thomas Brown sprach leise. Ein Sekretär bewegte einen der Steine. Neben dem Thron war dieser Tisch, der große Exchequer, das wichtigste Möbelstück im Königreich. Er war gut drei Meter lang und fast zwei Meter breit; ein vier Finger breiter Rand verlieh ihm das Aussehen eines Spieltisches. Auf diesem Tisch lag ein schwarzes Tuch, das von weißen Linien in Quadrate aufgeteilt war und dem Gericht seinen Namen gegeben hatte.
    Je nachdem, auf welchem Quadrat ein Stein lag, bedeutete so ein Damestein tausend Pfand oder auch nur zehn oder sogar auch nur einen Silberpenny, den ein einfacher Arbeiter als täglichen Lohn erhielt. Das karierte Tuch war nichts weiter als eine Art Abakus, eine einfache Rechenhilfe, auf der die Einkünfte und Ausgaben des Königreichs festgehalten und überblickt werden

Weitere Kostenlose Bücher