London
konnten. Zweimal im Jahr, im Frühling an Ostern und im Herbst am Michaelitag, kamen die Sheriffs, die Verwalter der Grafschaften von England, zur Abrechnung zum Exchequer.
Zuerst wurden in einem Vorzimmer die in Säcken von ihnen herbeigeschafften Silberpennies auf ihre Güte getestet und gezählt. Wenn sie gut waren, wogen zwanzig Dutzend Pennies ein Pfand. Da die Normannen den englischen Penny als esterlin bezeichneten, was in Lateinisch sterlingus hieß, wurde die Zähleinheit unter dem Begriff Pound Sterling bekannt.
Als nächstes bekam der Sheriff ein Kerbholz, einen Haselnußzweig, auf dem mit Kerben festgehalten war, was er eingezahlt hatte. Damit jede Partei ein Dokument hatte, wurde der Stock kurz unter dem Griff der Länge nach aufgeschlitzt; die beiden Teile eines solchen Kerbholzes hießen foil und counterfoil. Das längere Stück, das den Griff mit einschloß, verblieb beim Sheriff und zeigte ihm die Menge seiner eingezahlten Summe an; es wurde auch als stock bezeichnet. So gelangten im zwölften Jahrhundert die Begriffe Exchequer, Sterling, Counterfoil und Stock in die englische Finanzsprache.
Nachdem der Schatzkanzler an dem großen Tisch zufriedengestellt war, wurden die Transaktionen der Sheriffs von den Schreibern festgehalten. Diese fingen damit an, mit einem Griffel auf mit Wachs überzogenem Holz eine erste Fassung zu erstellen. Diese Fassung wurde dann auf Pergament kopiert.
Pergament war damals ausreichend vorhanden und billig. Nur das feinste Pergament, das aus sorgfältigst gesäuberten und gedehnten Kälberhäuten hergestellt wurde, war seltener und teurer; es wurde für Kunstwerke wie etwa Buchillustrationen verwendet. Für gewöhnliche Dokumente gab es einen nahezu unbegrenzten Vorrat an Häuten von Kühen, Schafen oder Eichhörnchen. Im Schatzamt von England war das Pergament billiger als die Tinte.
Das englische System der Erfassung solcher Daten wies noch eine Besonderheit auf, die nur auf der Insel zu finden war. Anfangs wurden die Pergamentaufstellungen gefaltet und zu Büchern zusammengelegt. Als Wilhelm der Eroberer sein neues Königreich vermessen hatte, waren die mächtigen Bände seines Domesday-Book entstanden. Doch in späteren Generationen beschlossen die englischen Datenverwalter, die Besitztümer der Krone aufgerollt in Zylinderform festzuhalten, und deshalb wurden diese Unterlagen nicht als Bücher, sondern eben als Rolls, oft auch als Pipe Rolls bezeichnet.
Die Münzen wurden zu dieser Zeit noch in der königlichen Schatzkammer aufbewahrt, dem thesaurus, wie sie die lateinisch sprechenden Sekretäre nannten, die sich in Winchester, der alten Reichshauptstadt König Alfreds, befand. Doch bevor sie dorthin geschafft wurden, lagerten sie in der Pyx-Kapelle gleich neben der Westminsterabtei.
Auf dem Gang zum Exchequer lehnte ein stiller junger Mann an der Wand, ein vielversprechender Kleriker namens Pentecost Silversleeves. Aber warum war sein Gesicht so bleich an diesem warmen Juni tag?
Er war ein sonderbarer junger Mann. Sein biblischer Name war nicht ungewöhnlich, denn im Zuge des religiösen Wiedererwachens, das London in den letzten Generationen erfaßt hatte, waren solche Namen sehr beliebt. Pentecosts Vater, Henris Enkel, der inzwischen das Oberhaupt der Familie Silversleeves war, hätte einen normannischen Namen vorgezogen, doch eine gewisse verwitwete Tante, die in einen Nonnenorden eingetreten war, hatte klargestellt, daß sie ihr Erbe nur einem Pentecost vermachen würde. Also wurde er Pentecost genannt.
Sein Äußeres war typisch für die Familie: dunkle Haare, eine große, lange Nase und traurig blickende Augen. Dazu kamen eingefallene Schultern, Hüften, die breiter waren als die Brust, und schwache Glieder. Aber diese körperlichen Mängel wurden wettgemacht durch wahrhaft erstaunliche geistige Gaben.
Als Master Thomas Brown die jungen Kleriker geprüft hatte, war es Silversleeves untersagt worden, an diesem Test teilzunehmen, denn er konnte sämtliche Rechenaufgaben ohne die Hilfe eines Abakus und ohne Schreibtafel lösen. Er kannte den gesamten Inhalt der Pipe Rolls auswendig.
Solche Talente hätten ihn eigentlich zu einem Gelehrtendasein befähigen sollen, doch er wollte nie lernen. Seine Eltern hatten ihn zuerst in die Schule bei St. Paul's geschickt, dann auf eine andere, dann auf eine kleinere Schule bei St. Mary-le-Bow. Auf jeder hatte er nur gerade das Nötigste gelernt. Seine Lehrer beschwerten sich stets: »Er strengt sich einfach nicht
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