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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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rannte zur Kellertreppe. Dort brannte eine Fackel in einem eisernen Fackelhalter, aber auch dort stand keine Wache. Ralph fluchte. Zweifellos hatte sich der Bursche davongemacht, um das Feuer zu begaffen. Er nahm die Fackel, schloß die Tür auf und stieg die Wendeltreppe in den Keller hinab.
    Im ersten Moment sah er nichts Auffälliges. Dann bemerkte er das geöffnete Abflußgitter. Das war es also! Er stellte sich mit gezücktem Schwert vor den Abfluß und erwartete, daß jemand heraufkommen würde, was jedoch nicht geschah. Schließlich befürchtete er, daß die Verschwörer schon auf der Flucht waren. Vorsichtig ließ er sich in den Abfluß hinab und kroch durch den Gang.
    Mehr als die Hälfte der Waffen war bereits verstaut. Bald würde er mit dem Verladen fertig sein. Osric bückte sich eben über das Boot und verstaute ein paar Speere, als er ein Geräusch hinter sich hörte und beim Umdrehen das vertraute, langnasige Gesicht Ralph Silversleeves' aus dem Gang auftauchen sah.
    Der Normanne richtete sich auf und grinste. »Bist du allein, Osric?« fragte er und sah sich um. »Offensichtlich ja. Im Namen des Königs, du bist verhaftet!« Er richtete sein Schwert auf die Leibmitte seines Gegenübers. »Du hast wohl geglaubt, du könntest mich zusammen mit deinen Freunden betrügen, was?« zischte er.
    Da beging Osric eine Dummheit. Er holte sich eine Waffe aus dem Boot und baute sich mit gespenstisch bleichem Gesicht vor dem Normannen auf, in der Hand einen Speer.
    Ralph beeindruckte dies wenig. Der Leibeigene machte einen Schritt auf ihn zu, doch er trat nur zurück, ließ Osric wieder auf sich zukommen und trat abermals einen Schritt zurück, immer weiter weg von dem Boot und den Waffen.
    Ralph sah den Haß in Osrics Augen, den aufgestauten Haß eines Mannes, der zwei Jahrzehnte lang unterdrückt worden war. Inzwischen war er ein paar Schritte oberhalb von Osric im Vorteil. Dank des flackernden roten Lichts hinter dem Tower war der glitzernde Speer deutlich zu erkennen. Osric sprang wieder auf ihn zu, doch da hackte Ralph mit einer einzigen, raschen Bewegung seines Schwertes den Speerkopf einfach ab, so daß Osric nur noch den Schaft in der Hand hielt. »Nun, mein Kleiner, willst du mich jetzt mit diesem Stock töten?« fragte er hämisch. Er brauchte den Leibeigenen lebendig, doch ein wenig wollte er sich noch an seinem Entsetzen weiden. Er hob sein Schwert. Wie verblüfft Osric aussah! War es das Schwert? Die Aussicht zu sterben? Die rote Feuerwand hinter dem Tower?
    Aber es war nicht das Feuer und auch nicht das Schwert, weshalb Osric nun erstaunt nach Luft schnappte. Es waren ein großer, roter Bart und zwei funkelnde Augen, eine riesige Gestalt, die aus dem Schatten getreten war, die die mächtige Doppelaxt schwang und den Kopf des Normannen zerschmetterte und seinen Brustkorb zweiteilte. Barnikel war gekommen.
    Eine halbe Stunde später bestatteten sie Ralphs Leichnam. Osric war ein passender Ort dafür eingefallen; sie wickelten die Leiche in Leinwand ein und zerrten sie durch den Gang hindurch bis zu dem Geheimversteck der Waffen. In diesen Raum stopften sie die Leiche, versiegelten die Wand und verließen den Ort auf demselben Weg, auf dem sie hergekommen waren. Die Abflußgitter verschlossen sie sorgfältig hinter sich.
    Bald darauf lenkte Osric das Boot mit den Waffen in den Fluß hinein und hin zu dem Ort, wo andere Hände die Waffen verteilen sollten.
    Barnikel lief in der Zwischenzeit zurück in die Stadt. Sein Haus bei All Hallows stand bereits in Flammen. Das Feuer hatte sich von den Buden in der Candlewick Street bis hin zum Cornhill ausgebreitet. Als Barnikel den Walbrook überquerte, hörte er, wie jemand schrie: »St. Paul's brennt. Die Kirche stürzt ein.« Bei dieser Nachricht bildete sich ein Grinsen auf dem Gesicht des Dänen. In der Hand hielt er nämlich Ralphs Talisman an seiner Kette, den sie der Leiche abgenommen hatten, und nun wußte er, wo er ihn loswerden konnte.
    1097
    Hilda saß in der Halle ihres Hauses neben St. Paul's und blickte auf ihr Leben zurück. Sie mußte sich eingestehen, daß sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besten gewandt hatte. Osric war zwar inzwischen tot, doch manchmal sah sie seinen Sohn, der bei Alfred und seiner Familie lebte. Auch Barnikel war gestorben; einen Monat nach dem großen Feuer des Jahres 1087 hatte er unten am Billingsgate-Pier einen Schlaganfall erlitten. Im nachhinein war sie fast froh darüber, denn der Aufstand, der ein Jahr darauf

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