London
an, weil ihm alles zufliegt.«
Schließlich schickten ihn die Eltern nach Paris. Dort lebten die bekanntesten Gelehrten Europas. Bis vor kurzem hatte der berühmte Abelard dort unterrichtet, bis seine Affäre mit Heloise dazu führte, daß er in Ungnade fiel. Englische Landsleute hatten in Paris studiert und waren danach zu Amt und Würden gekommen, bevor sie sich ganz den Wissenschaften widmeten. Jemand, der in Paris seine Studien beendet hatte, durfte sich Magister, also Master nennen. Doch der junge Silversleeves beendete seine Studien nie. Er reiste noch kurz nach Italien, dann kehrte er wieder heim. Niemand nannte ihn Master.
Was hatte er gelernt? Er beherrschte das fundamentale Trivium: Lateinische Grammatik, Logik und Rhetorik. Dies war die Grundlage für die gebildeten Schichten in Europa, deren Verkehrssprache noch immer Latein war. Er hatte auch das Quadrivium – Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie – studiert, wußte also etwas von Euklid und Pythagoras, konnte die Konstellationen der Gestirne benennen und glaubte, daß die Sonne und die Planeten sich in einem komplexen Muster um die Erde drehten. Er konnte Textstellen aus der Bibel in Lateinisch zitieren. Er hatte ausreichende Kenntnisse im Rechtswesen, um einem Abt nachzuweisen, wieviel Geld er dem König schuldete. In Italien hatte er auch Vorlesungen zur Anatomie besucht. Plato und Aristoteles waren keine Unbekannten für ihn. Doch alles in allem kannte er eben gerade das Nötigste und nichts darüber hinaus. Aber wenn er schon kein Magister war, dann immerhin ein Kleriker, ein Mann, der der Kirche diente.
In einer Welt, in der nur wenige lesen konnten, lag die gesamte Bildung in den Händen der Kirche. Es war üblich, daß ein junger Mann, der seine Ausbildung beendet hatte, sich eine Mönchstonsur zulegte und zu dem niedrigsten Weihegrad zugelassen wurde. Technisch gesehen war der junge Silversleeves ein Diakon. Als solcher stand es ihm frei zu heiraten, ein Geschäft zu eröffnen, nach seinem Gutdünken zu handeln. Er konnte sämtliche Privilegien der Kirche in Anspruch nehmen und später dann die höheren Weihen empfangen.
Die Kirche, die das christliche Erbe des alten Römischen Reiches angetreten hatte, besaß breiten Einfluß und ein umfassendes Netzwerk in ganz Europa. Und ob sie nun heilig oder korrupt waren, ob es sich um Gelehrte handelte oder ob sie kaum das Vaterunser in Lateinisch rezitieren konnten – sämtliche gebildeten Männer der Gesellschaft hatten der Kirche ihre Bildung zu verdanken. Selbst wenn es gelegentlich Spaltungen gab, selbst wenn in diesem Moment der deutsche Kaiser versuchte, einen eigenen Anwärter als Konkurrenz auf den Heiligen Stuhl aufzustellen, blieb doch die Tatsache bestehen, daß der Papst ein direkter Nachfolger des heiligen Petrus war. Er konnte Lehnsherren ermahnen. Seine Bischöfe verkehrten mit den wichtigsten Adligen im Land. In einer feudalen Gesellschaft, in der es sehr schwierig war, seinen Status zu verändern, konnte ein kluger Mann, selbst der Sohn eines einfachen Leibeigenen, durch die Kirche an die Spitze der Gesellschaft gelangen.
Diese besondere Beziehung zwischen dem Staat und der gebildeten Schicht der Kirchenmänner wies noch ein weiteres Element auf. Jahrhundertelange Schenkungen hatten dazu geführt, daß die Kirche in ganz Europa das meiste Land besaß. Und obwohl eine Generation nach der Eroberung der Großteil des Landes in England feudalen Familien überlassen worden war, gab es noch genug Kirchenland, das den oberen Klerikern dieser Zeit gewaltige Einkünfte bescherte. Wenn der König seine Freunde oder treue Diener belohnen wollte, machte er sie zu Bischöfen. Einige Bistümer gelangten auf diese Weise an Männer von inniger Frömmigkeit und Würde, andere jedoch an große königliche Diener oder Staatsmänner. Der momentane Bischof von Winchester war sowohl ein Verwandter des Königs als auch ein Staatsmann. Königliche Beamte hatten oft die Sitze in Salisbury, Ely und mehreren anderen Grafschaften inne. Zahlreiche Beamte bezogen Einkünfte aus niedrigeren Ämtern – Erzdiakonien, Domherrenpfründen und reichen Ländereien. In dieser Zeit war der Kanzler von England und der Erzbischof von Canterbury ein und dieselbe Person, Thomas Becket, ein treuer Diener seines Königs. Eines Tages würde ja vielleicht auch der junge Silversleeves die Bischofswürde erhalten.
Warum war er nur mit ihnen mitgegangen? fragte sich Pentecost. Mochte er sie überhaupt? Nein, aber es
Weitere Kostenlose Bücher