London
Aufseher ihnen nicht aus Freundlichkeit Wasser und Brot reichte, mußten sie hungern.
Martin Fleming war nun seit einer Woche in Newgate. Seine Familie brachte ihm Essen, und Joan besuchte ihn jeden Tag. Manchmal konnten sich reiche Leute beim König eine Begnadigung erkaufen, aber für Leute wie ihn gab es keine Hoffnung. Morgen würde er sterben.
Deshalb konnte er wenig mit der sonderbaren Botschaft anfangen, die er eben erhalten hatte. Joans Bruder hatte ihm durch das Eisengitter hindurch gesagt: »Ich soll dir von Joan ausrichten, daß morgen alles in Ordnung kommen wird. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint, soll ich dir noch sagen. So einfach, was sie sagt. Vertraue ihr.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Sie ist verschwunden. Sie hat mir noch gesagt, ich soll den Eltern sagen, daß sie erst morgen zurückkommt. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst.« Dann ging er wieder.
Am späten Vormittag dieses Tages stand ein großer, blonder Mann, er mochte etwa Ende Zwanzig sein, vor einer Tür im ersten Stock des Hauses von William Bull. Ein Diener hatte ihn hochgeschickt, und nun klopfte er nervös an der Tür.
William Bull saß auf seiner Toilette und ignorierte das Klopfen. Er dachte nach.
Die Toilette, die im Obergeschoß des Hauses unter dem Hauszeichen des Bullen eingebaut worden war, war ein kleiner, viereckiger Raum mit einem mit einem Laden versehenen Fenster. Die Wände und die Tür waren mit grünem Filz bespannt, auf dem Boden lagen frische, wohlriechende Binsen. Der Sitz, der in einen langen Schacht mündete, war aus poliertem Marmor, und auf ihm lag ein ringförmiges, dickes, rotes Kissen, bestickt mit einem Blumen- und Früchtemuster in Rot, Grün und Gold. Der letzte König, Heinrich III. hatte eine Vorliebe für sanitäre Einrichtungen gehegt und neben vielen Kirchen auch eine außergewöhnlich hohe Zahl von Garderobes, also Toiletten, gebaut. Adlige, die gerne der Mode folgten, hatten es ihm gleichgetan, und Bulls Vaters, ein Londoner Baron und Alderman, ließ in seinem Haus auch so einen Raum einrichten.
Es war ein guter Ort, um nachzudenken. Und an diesem Morgen mußte William Bull zwei Entscheidungen fällen, eine große und eine kleine. Obwohl die große sein Leben völlig umkrempeln würde, war sie die leichtere.
Wieder klopfte es an der Tür. »Herein!« brummte er.
Er hielt in seinem Sanktum gern Audienzen ab. Doch nun, als er sah, um wen es sich handelte, verdunkelte sich seine Miene. »Du bist es«, knurrte er. »Der Verräter!«
Elias Bull war zehn Jahre jünger als sein Vetter William. Er war im Gegensatz zu seinem stämmigen Vetter eher schlank und hatte eine frische Gesichtsfarbe, während William fleischige Wangen und massige Kiefer hatte. Er war Weber und hatte nur ein sehr bescheidenes Auskommen. »Ich hätte dich ja nicht belästigt«, hatte er bei ihrer letzten Begegnung gestanden, »aber ich tue es für meine Frau und die Kinder. Wie du wohl weißt, hat unser Großvater meinen Vater mit einer äußerst kargen Abfindung abgespeist.« Er benötigte eine kleine Hilfe.
Die lange Herrschaft König Heinrichs III. hatte der Familie Bull nichts Gutes gebracht. Solange der Regentschaftsrat herrschte, als der König noch minderjährig war, war es nicht schlecht gewesen. Es gab keine größeren Kriege. Englands mächtiger Wollhandel blühte, und auch der Stadt ging es unter ihrem Mayor und dem oligarchischen Rat von Aldermen gut. »Wenn nur dieser Junge nie volljährig geworden wäre«, jammerte Williams Vater oft. »Oder wenn er wenigstens nicht ein Plantagenet gewesen wäre!« Denn es hatte wohl nie einen Plantagenet gegeben, der nicht von einem Großreich geträumt hätte. Der junge Heinrich herrschte über England und auch noch über den südlichen Teil von Aquitanien, doch er träumte von mehr.
Und schließlich ging es ihm wie seinem Vater Johann; eine Reihe von extrem kostspieligen Kriegszügen im Ausland scheiterte; eine große Gruppe von Baronen unter der Führung von Simon de Montfort lehnte sich gegen ihn auf und stellte einen neuen Rat auf, der über den König hinweg herrschte, als sei dieser wieder zum Kind geworden. Montfort hatte einen Ausschuß von Baronen, Rittern und sogar Bürgern gebildet, der als Parlament bezeichnet wurde. Ein paar kurze Jahre lang hatte es sogar so ausgesehen, als würde sich eine neue Art von königlicher Herrschaft in England entwickeln, in der der König sich dem großen Rat unterwerfen müßte.
Und dann passierte etwas
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