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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Alles nur Teufelswerk. Als er zum jungen Mann herangereift war, ohne jemals geküßt worden zu sein, war er schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß alle Frauen unrein seien und er gar keine wollte.
    Joans Vater war ein anständiger, ernster Handwerker. Er bemalte die großen, reich verzierten Holzsättel der Reichen und Adligen. Seine beiden Söhne halfen ihm bei der Arbeit; er war immer davon ausgegangen, daß seine Tochter einen Handwerker aus diesem Bereich heiraten würde. Was zum Teufel fand sie nur an dem jungen Fleming, dessen Aussichten so kümmerlich waren? Er hatte immer wieder versucht, ihr den jungen Mann auszureden, aber Joan war beharrlich geblieben, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Sie wurde geliebt, ja nicht nur das, sie wurde glühend verehrt.
    Martin arbeitete seit einem halben Jahr bei dem Italiener, als er sie eines Tages bemerkte. Er war auf einem Botengang zu den Piers an der Vintry und ging hinauf zum West Cheap, als er sie vor der Werkstatt ihres Vaters am Anfang der Bread Street sitzen sah. Warum blieb er stehen, um mit dem Mädchen zu reden? Es mußte eine innere Stimme gewesen sein, die ihn dazu veranlaßt hatte. Am nächsten Tag kam er wieder vorbei, und am übernächsten ebenso.
    Joan war anders. Sie war so ruhig, so bescheiden. Sie schien ihn nicht lächerlich zu finden. Wenn sie ihn mit ihren ernsten Augen anblickte, kam er sich wie ein richtiger Mann vor. Bald fand er heraus, daß es keinen anderen in ihrem Leben gab. »Sie ist so rein«, sagte er sich. Und das stimmte tatsächlich. Sie war noch nie geküßt worden.
    Er machte ihr den Hof. Die Tatsache, daß er keine Rivalen hatte, schenkte ihm das nötige Selbstvertrauen, und mit der Zeit begann er, sich als ihr Beschützer zu fühlen. Je deutlicher er erkannte, wie gut sie war, desto entschlossener wurde er, sie nie mehr loszulassen. Keine Woche verstrich, ohne daß er ihr ein kleines Geschenk vorbeibrachte. Nie zuvor hatte ihr jemand derart viel Aufmerksamkeit gezollt. Und so war es kaum überraschend, daß nach einem halben Jahr beide so weit waren, daß sie heiraten wollten.
    Aber wie sollten sie das bewerkstelligen? Der Sattelmaler konnte seiner Tochter kaum etwas mitgeben, und Martins Vater hatte noch weniger. Schließlich kam man zu einer Einigung. Die beiden jungen Leute sollten noch zwei Jahre warten in der Hoffnung, daß sich Martins Stellung verbesserte.
    Und dann passierte das Unheil, an dem Martin nicht schuldlos war. Es gab ein Gesetz, daß gewöhnliche Leute nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr verlassen durften. Wenn ein Diener ausging, mußte er die Erlaubnis seines Herrn vorweisen. Selbst die Wirtshäuser sollten geschlossen sein. Im Mittelalter galt diese Sperrstunde in allen Städten, wenn auch kaum jemand sich strikt daran hielt. Abgesehen von zwei Wächtern an den Stadttoren und dem Büttel in jedem Bezirk gab es ohnehin niemanden, der dieses Gesetz überwachte.
    An einem Abend im Oktober – sein Herr weilte außer Haus – schlich Martin sich noch in eine Kneipe. Bei seiner Rückkehr ertappte er zwei Diebe in dem dunklen Haus in der Lombard Street. Um das Hab und Gut seines Herrn zu beschützen, hastete er zu ihnen hin und machte dabei soviel Lärm, daß die Diebe flohen. Er verfolgte sie, und einer der beiden ließ eine kleine Tasche fallen, bevor sie verschwanden. Martin hob die Tasche auf und wollte wieder heim, doch schon nach wenigen Minuten trat plötzlich der Büttel aus einer dunklen Ecke und fragte ihn, ob er denn eine Erlaubnis habe, sich so spät noch herumzutreiben. Und er untersuchte die Tasche.
    Als der Italiener am nächsten Tag zurückkehrte, ließ er sich durch nichts davon abbringen, daß Martin versucht habe, ihn zu berauben. In der Tasche befanden sich mehrere goldene Schmuckstücke, die er sorgfältig in einem Versteck aufbewahrt hatte. »Ich habe diesen jungen Mann schon früher bei dem Versuch ertappt, mich zu bestehlen«, erklärte er vor Gericht. Martin wurde für schuldig befunden, und auf Diebstahl stand die Todesstrafe.
    In der City gab es drei große Gefängnisse: Fleet, Ludgate, in dem vor allem Schuldner einsaßen, und Newgate. Alle drei bestanden aus ein paar steinernen Zellen, die immer dicht belegt waren. Die Gefangenen konnten bei dem Gefängniswärter für ihr Essen bezahlen, oder aber Verwandte oder Freunde brachten ihnen Essen und Kleidung vorbei. Wenn dies nicht der Fall war und wenn auch Passanten kein Mitleid mit ihnen hatten oder der

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