London
gebraucht. Und was war einfacher, als von den Juden Schutzgelder einzufordern? Diese Gebühren wurden den Juden so häufig und in einer derartigen Höhe auferlegt, daß im vergangenen Jahrzehnt nahezu jeder jüdische Finanzier ruiniert wurde. Dann wurden die Juden von christlichen Geldverleihern abgelöst, vor allem von den großen italienischen Finanziers, die vom Vatikan gefördert wurden. Kurzum – der König hatte keine Verwendung mehr für die Juden. 1290 annullierte König Eduard I. in einem Akt von Frömmigkeit die verbliebenen Schulden und erfreute den Papst damit, daß er die gesamte jüdische Bevölkerung aus dem Inselkönigreich verbannte.
Leider waren auch die Arzte gegangen. Und so grübelten die Dogget-Schwestern an diesem Novembermorgen über ihr Schicksal nach, das ohne das Quecksilber des jüdischen Arztes ziemlich düster aussah. Und die kleine Joan, deren Leben sie umgekrempelt hatten, hatten sie in diesem Moment völlig vergessen.
Martin Fleming saß sehr ruhig in seiner Zelle. »Bete!« hatte der Gefängniswärter ihm heute morgen nahegelegt. Aber so sehr er sich auch darum bemühte, es fiel ihm einfach kein Gebet ein. Er wußte nur, daß man ihn morgen hängen würde und daß es ihm überhaupt nichts nützte, daß er unschuldig war.
Martin Fleming war nur wenig größer als das Mädchen, das er liebte, und er hatte einen sehr sonderbaren Körper; überall dort, wo sich bei den meisten Leuten Wölbungen nach außen zeigten, wölbte es sich bei Martin Fleming nach innen. Seine schmale Brust war eingefallen; sein Gesicht erinnerte an das Innere eines Löffels. Seine ganze Erscheinung war so schwächlich, daß man immer annahm, daß sein Geist ebenso schwach sei. Nur wenige wußten, daß sich in der Seele Martin Flemings eine Hartnäckigkeit versteckt hielt, die unverrückbar wie ein Berg war.
Wie sein Name nahelegte, stammte seine Familie aus Flandern. Das große Gebiet zwischen den Ländern der Franzosen und der Deutschen, in dem vor allem Tuch hergestellt wurde, war nicht nur Englands Handelspartner, von dort kamen auch unzählige Immigranten auf die Insel. Angeworbene Söldner, Kaufleute, Weber und Kunsthandwerker aus Flandern gliederten sich mühelos in das englische Volk ein und brachten es meist zu Wohlstand. Doch dies war Martins Familie nicht gelungen. Sein Vater war ein armer Hornbearbeiter, dessen Handwerk, Horn soweit abzuschleifen, bis es durchsichtig war, so daß man es als Hülle für Laternen benutzen konnte, ihm nur einen Hungerlohn einbrachte. Als sich für den Jungen die phantastische Gelegenheit bot, hatte sein Vater ihn gedrängt, zuzugreifen. »Man kann nie wissen, was dieser Mann noch alles für dich tut, wenn er dich mag«, hatte der Vater gemeint.
Anfangs war der junge Martin so froh darüber, für den Italiener zu arbeiten, daß ihm kaum auffiel, daß einiges schieflief. Der Italiener war reich, er war einer der Geldverleiher, die die Juden ersetzt hatten, und hatte seinen Wohnsitz an der Gasse im Stadtzentrum am Cornhill, die als Lombard Street bekannt war, da viele Leute dort wohnten, die aus der Lombardei kamen. Der Italiener, ein Witwer, dessen Sohn das Unternehmen in Italien leitete, lebte allein und brauchte Martin für allerlei Botengänge. Er zahlte ihm einen guten Lohn, wenn auch unter Murren.
»Er denkt die ganze Zeit, daß ich ihn betrüge«, beschwerte sich Martin. Ob dies nun darauf zurückzuführen war, daß der Italiener das Englische nicht sehr gut beherrschte, oder ob er einfach ein mißtrauischer Mensch war, fand Martin nie heraus, aber es gab ständig Ärger. Wenn er eine Botschaft überbrachte, wurde ihm vorgeworfen, daß er trödelte; wenn er zum Einkaufen auf den Markt ging, beschuldigte ihn sein Herr, daß er Geld für sich selbst abgezweigt habe. »Hätte ich diese Stellung doch nur aufgegeben«, sagte er später reuevoll. Aber er hatte es nicht getan, denn er dachte ständig an Joan.
Joan, die so ganz anders war als die anderen Mädchen. Mit achtzehn hatte Martin herausgefunden, daß die meisten Mädchen ihn auslachten, weil er so schwächlich war. Im Mai, wenn viele junge Lehrlinge einen Kuß erhielten, bekam er nie einen. Ein anderer Junge wäre vielleicht daran verzweifelt, doch Martin mit seinem geheimen Stolz verachtete diese Mädchen einfach nur. Wer waren sie denn schon? Nur Frauen. Unbeständige, schwächere Werkzeuge – so wurden sie doch immer von den Pfarrern in der Kirche bezeichnet. Und ihr Lächeln, ihre Küsse, ihre Körper?
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