London
schon eine ganze Stunde da drinnen!« wollte seine Frau von ihm wissen, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Ich weiß schon, was du machst, du denkst wieder mal nach.« Er seufzte. Die Auseinandersetzungen zwischen seiner Urgroßmutter Ida und ihrem Mann waren in die Familiengeschichte eingegangen, doch sicher hatte noch kein Bull jemals mit einer Frau wie seiner zurechtkommen müssen.
Er hatte zwanzig miserable Jahre lang versucht, sie zu lieben. Schließlich hatte sie ihm starke Kinder geschenkt, sagte er sich immer wieder. Aber es war nie leicht, und in den letzten paar Jahren hatte er es aufgegeben. Nun war sie ergraut, hager und unnachgiebig; sie beschwerte sich, wenn er ausging, und piesackte ihn, wenn er zu Hause war. Kein Wunder, daß er sich manchmal an der Bankside ein wenig Trost holte. Nun teilte er ihr seine große Entscheidung mit, und sei es auch nur, um der täglichen Öde zu entgehen. »Wir werden aus London wegziehen, nach Bocton, dort werden wir von nun an das ganze Jahr leben.«
So ungewöhnlich war Bulls Plan nicht. Während sich die Londoner Kaufleute früher oft erst im Alter auf ihre Landgüter zurückgezogen hatten, hatten nun bereits mehrere seiner Patrizierkollegen ihre Geschäfte vorzeitig eingestellt und sich in den Landadel eingereiht, weil sie den Wettbewerb in der Stadt zu mühsam fanden. Gottlob verfügte er noch immer über ein erhebliches Vermögen, mit dem er sich etwas Land dazuerwerben wollte. Doch nun hörte er einen ungläubigen Schrei.
»Ich hasse das Landleben! Ich werde hier in London bleiben«, protestierte seine Frau.
»Nicht in diesem Haus«, sagte er munter. »Das werde ich verkaufen.«
»An wen?«
Das war nun wirklich das geringste Problem. In der wachsenden Stadt gab es einen erstaunlichen Zuwachs an Wirtshäusern. Um die siebzigtausend Menschen lebten nun hier, und es gab bereits um die dreihundert Wirtshäuser, in denen Essen und Trinken serviert wurde, dazu weitere tausend kleine Brauereien, in denen das Bier vom Faß ausgeschenkt wurde. In einigen Wirtshäusern gab es auch Unterkünfte für die vielen Besucher der Stadt, und manch ein Wirt hatte es zu großem Wohlstand gebracht. Erst vor einem Monat hatte ihn einer, der bereits zwei Gasthäuser besaß, gefragt, ob er denn nicht sein Haus verkaufen wolle, und ihm einen guten Preis dafür geboten. So teilte Bull nun seiner Frau mit, daß er das Haus an einen Wirt zu verkaufen gedenke.
Sie fing zu weinen an. Er wandte seinen Blick gen Himmel. »Ich gehe aus«, sagte er. Es kehrte eine kurze, feindselige Stille ein, dann hob wieder dieses fürchterliche, eintönige Nörgeln an. »Ich weiß schon, wohin du willst. Steigst wieder mal einer Frau nach.«
Das war zu viel. »Soll ich dir sagen, wohin ich gehe? Zur Stadtpolizei! Die werden dir einen Maulkorb anlegen! Und dann laß ich dich damit durch die Stadt führen!«
So etwas war eine ziemlich üble Vorrichtung. Zänkische Frauen wurden manchmal dazu verdammt, sich einen kleinen Eisenkäfig über den Kopf stülpen zu lassen, der auch noch ein grausames Eisenteil besaß, das in den Mund eingeführt wurde, um die Zunge unbeweglich zu machen. In einem solchen Käfig wurden unbeliebte Frauen dann durch die Straßen geführt. Bull hörte seine Frau weinen und begann, sich wegen seiner Drohung zu schämen, aber er hatte wirklich genug von ihr. Er ging an ihr vorbei aus dem Haus. Kurz nach dem Mittagsgeläut kam er zu dem Bordell an der Bankside und wurde von dem grinsenden Bordellbetreiber zu Joan geführt.
Joan musterte William Bull. Vor ihr stand ein großer, beleibter Mann in den Vierzigern mit einem frischen Gesicht und dicken Waden, der so wirkte, als sei er daran gewöhnt, daß man ihm gehorchte.
Plötzlich wurde Joan wütend. Sie schrie den Bordellbetreiber an: »Ihr habt mir versprochen, daß ich bis morgen keinen Kunden haben werde, Ihr dreckiger Lügner!«
Bull blickte fragend auf die Frau des Mannes. »Denkt Euch nichts weiter, mein Herr«, rief diese. »Sie ist nur ein wenig nervös.« Und zu Joan gewandt zischte sie ärgerlich: »Du tust, was man dir sagt! Das ist ein wichtiger Mann und ein guter Kunde!«
»Das ist mir egal!«
»Willst du etwa die Peitsche spüren?«
»Ihr habt kein Recht, mich zu peitschen.«
Im Bordell herrschte die Regel, daß die Mädchen ihre Zimmer mieteten, und abgesehen von dieser Verpflichtung waren sie frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. In der Praxis hatte natürlich der Bordellbetreiber bei
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