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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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fast allen Mädchen irgend etwas gegen sie in der Hand.
    »Vielleicht«, meinte der Bordellbetreiber jetzt nur kühl. »Aber ich kann den Büttel des Bischofs kommen und dich noch in dieser Stunde aus Liberty rauswerfen lassen. Danach findest du garantiert keine Arbeit mehr.«
    Genau dies durfte nicht passieren. »Dann tu ich's eben«, sagte Joan und zwang sich dazu, Bull anzulächeln.
    An der Außenwand des Bordells führte eine Holztreppe zu den zwei oberen Stockwerken. In jedem Stockwerk gab es drei Räume, die durch hölzerne Trennwände in je zwei quadratische Kämmerchen unterteilt waren. Joan und der Kaufmann traten in den schmalen, düsteren Gang im zweiten Stock und gelangten nach ein paar Schritten zu einer kleinen Treppe, die kaum mehr als eine Leiter war. Joan tastete sich nach oben.
    Joans Zimmer befand sich im Dachboden unter dem Giebel des Hauses. Es gab ein kleines Fenster, dessen obere Hälfte mit Pergament bedeckt war, so daß das Licht hereinfallen konnte; der untere Teil war mit einem stabilen Holzladen versehen. Auf dem mit muffigen Binsen bedeckten Fußboden lag eine Strohmatratze. Joan ließ ihren Schal fallen. Sie hatte sich noch nicht das gestreifte Gewand ihres Berufsstandes zugelegt, sondern trug noch ihr einfaches, langärmliges Leinenuntergewand und darüber eine ärmellose Schürze mit einem Blumenmuster. Sie löste ihr Haar. Dann trat sie zum Fenster und stieß den Laden auf. Etwa hundert Meter entfernt floß der Strom träge dahin. Sie hatte nur einen Gedanken: Wie konnte sie ihn hinhalten? Langsam drehte sie sich zu ihm um. Er hatte seinen Umhang abgelegt und begann gerade, seine Jacke aufzuknöpfen. Sie blickte auf sein breites Gesicht. Lag Freundlichkeit darin?
    »Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte er.
    Und da fiel ihr etwas ein – ein Weg, wie sie ihre schreckliche Lage vielleicht doch noch zu ihrem Vorteil wenden konnte. Es war nur eine winzige Chance, aber vielleicht spielte er ja mit.
    »Ich möchte Euch um etwas bitten«, sagte sie so ruhig wie möglich. Und dann erzählte sie ihm alles.
    Um ein Uhr mittags hüpfte ein kräftiger Bursche breit grinsend aus dem alten Königspalast zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt in die Stadt zurück; hinter ihm ragte die alte Westminsterabtei empor.
    1295 zeigte die Abtei ein höchst sonderbares Äußeres, denn als der fromme König Heinrich III. beschlossen hatte, sie zu renovieren, war ihm eine unglückliche Fehlkalkulation unterlaufen. Trotz der immensen Summe, die die Juden zur Verfügung stellten, und der Verpfändung der Kronjuwelen, die Heinrich für den luxuriösen neuen Schrein des heiligen Eduards vorgenommen hatte, war ihm das Geld ausgegangen. Die herrliche Osthälfte der Kirche, der Chor und die Querschiffe sowie ein kleiner Teil des Schiffes waren fertiggestellt und prunkten nun mit hohen, spitz zulaufenden Bögen im gotischen Stil. Aber dann fiel das Schiff plötzlich auf die sehr viel bescheidenere Höhe der alten, vom Bekenner erbauten normannischen Kirche ab. Und so stand sie nun schon seit einem Vierteljahrhundert: zwei Kirchen unterschiedlichen Stils, die in völlig unsinniger Weise miteinander verbunden waren. Ein weiteres Jahrhundert sollte vergehen, bis die Bauarbeiten wiederaufgenommen wurden, und noch ein weiteres, bis sie endlich beendet waren. Während der Herrschaftszeit von zwölf englischen Monarchen war die geheiligte Krönungsstätte ein reines Chaos.
    Aber Waldus Barnikel fand an diesem Tag alles perfekt. »Ich bin der glücklichste Mann von ganz London«, hatte er dem König vor wenigen Augenblicken gestanden. Waldus Barnikel von Billingsgate war rund wie ein Ball. Er war glattrasiert, obgleich sein rotes Haar ihm fast bis zu den Schultern reichte, und trug einen Fellhut. Er strahlte vor Zuversicht.
    Und dies mit Recht. Schließlich hatten die gewöhnlichen Fischhändler es mit ihrer Vereinigung bis in die höchsten Ebenen der Stadt gebracht. Er trug nun das rote Gewand eines Alderman. Ab sofort konnte er sich mit »Sire« anreden lassen. Und die Demütigung des stolzen Patriziers Bull, den er sein Leben lang gehaßt hatte, versüßte ihm das Ganze um so mehr.
    Barnikel war reich. Sein Weg zum Reichtum war typisch für die Fischhändler. Bald nach König Johanns Krönung hatte die Familie ein kleines Fischerboot erworben, dann ein weiteres. Als Waldus zur Welt kam, besaßen sie nicht nur ein Lager am Pier von Billingsgate und einen großen Stand auf dem Markt; sie hatten wie

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