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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Diskussion und sah nun seine Chance für ein dramatisches Eingreifen. »Das Mädchen hat recht, meine Herren«, rief er. »Ich bin Dionysius Silversleeves und arbeite in der Münze. Sie ist eine Hure. Ich hatte sie in der letzten Nacht.« Da entdeckte er auch William Bull in der Menge. Er deutete auf ihn und rief: »Und auch er hat sie gehabt.«
    Joans Gesicht spiegelte ihr Entsetzen wider. Dies hatte sie keinesfalls beabsichtigt. Man sollte ihr zwar glauben, daß sie eine Hure war, aber netterweise hatte ja Bull ihr versichert, daß er diskret dafür sorgen würde. Was würde der arme Martin nun denken? Sie starrte ihn beschwörend an, als könnten ihre Blicke ihn dazu bewegen, ihr zu vertrauen und die Sache zu verstehen.
    Nun ergriff der Gerichtsbeamte wieder das Wort. »Wir haben etwas vergessen!« Er wandte sich an Martin Fleming. »Offenbar ist dieses junge Mädchen eine Hure. Wenn dies denn zutrifft, seid Ihr gewillt, sie zu heiraten? Damit würdet Ihr freikommen, Ihr würdet nicht gehängt werden!«
    Martin Fleming brachte kein Wort heraus. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Auf seinem Weg in den Tod, mit dem er sich bereits abgefunden hatte, war seine Joan, seine allerliebste, reine Joan, in dem abscheulichen Gewand einer Hure aufgetaucht. Er konnte es einfach nicht fassen, auch wenn er sich noch an ihre Botschaft erinnerte: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Aber wie war dies denn möglich? »Vertraue ihr«, hatte ihr Bruder ihm gesagt. Aber sie wirkte so schuldig, so verwirrt. Und obwohl sie ihn so verzweifelt anstarrte und offenbar etwas sagen wollte, war er sich sicher, daß er die schreckliche Wahrheit auch ohne Worte verstand. Sie war eine Hure. Vielleicht hatte sie es für ihn getan, aber das änderte nichts an der Tatsache. Angesichts seines bevorstehenden Todes für ein Verbrechen, das er nicht einmal begangen hatte, war ihm von Gott, dessen Grausamkeit er nicht verstehen konnte, dieser schlimmste aller Schrecken gesandt worden. Das eine Mädchen, dem er zu vertrauen gewagt hatte, war genauso wie alle anderen, ja, noch schlimmer.
    »Nein, ich will sie nicht!« sagte er.
    »Nein!« schrie Joan. »Du verstehst es nicht!« Aber der Schinderkarren hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie wollte ihm hinterherlaufen, doch starke Arme hielten sie zurück. »Laßt mich los!« schrie sie. Sie drehte den Kopf und blickte in die strengen Gesichter ihres Vaters und ihrer zwei Brüder. »Es ist vorbei«, sagten sie. Da fiel sie in Ohnmacht.
    William Bull spornte sein Pferd zur Eile an. Er war nicht gerade erfreut darüber, daß Silversleeves ihn in aller Öffentlichkeit bloßgestellt hatte, auch wenn er dem Mädchen keine Schuld daran gab. Was genau geschehen war, verstand er nicht. Hatte der Münzbeamte sie tatsächlich ihrer Jungfräulichkeit beraubt? Wenn ja, dann nur mit Gewalt. Irgend etwas war faul an dieser Sache, das spürte er. Aber eines wußte er: Er hatte ihr sein Wort gegeben, ihr zu helfen. Und dies würde er nun versuchen, auch wenn jetzt nur noch eine äußerst geringe Chance bestand. »Wir können ihn als letzten hängen«, hatte der Gerichtsbeamte ihm gesagt. »Ich gebe Euch eine Stunde.«
    Bull wollte versuchen, eine königliche Begnadigung zu erhalten, und zwar vom Kronverwalter. Und dieser war im Parlament.
    Bei Bulls Ankunft drängten sich die Leute bereits im Westminsterpalast, Magnate und geringere Barone in kostbaren Gewändern, Ritter und aufrechte Volksvertreter wie er selbst in schweren, pelzgesäumten Umhängen. »Ich muß den Kronverwalter finden«, rief er und drängelte sich hinein. »Weiß jemand, wo er ist?«
    Mehrere Minuten arbeitete er sich in dem Gewühl vor, bis jemand ihm weiterhalf und auf einen Ort am anderen Ende des Palastes deutete, wo ein kleines, mit rotem Tuch bedecktes Podium aufgebaut war. Dort sah Bull den Kronverwalter mit dem König sprechen.
    König Eduard I. hörte sich unbewegt an, was der große, aufgeregte Kaufmann dem Kronverwalter zu sagen hatte und was ihm so wichtig war, daß er es wagte, die Unterhaltung mit dem Monarchen zu stören. Ein mögliches Fehlurteil. Eine Begnadigung, um die nun gebeten wurde. Solche Dinge passierten immer wieder. Der Bursche, schon unter dem Galgen stehend, ein armer Kerl, kein Verwandter dieses gediegenen Londoner Kaufmanns, der bereit war, für ihn einzutreten. Höchst ungewöhnlich.
    »Nun«, fiel König Eduard ein, »gewähren wir Gnade oder nicht?«
    »Wir könnten sie gewähren, Sire«,

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