London
Ritter, der für die Oberaufsicht zuständig war, als nächstes ein Sheriff der Stadt. Beide schwangen sich auf ihre Pferde. Dann kam ein Büttel, dann noch einer und schließlich die Gefangenen.
Vier waren offenbar arme Handwerker, einer ein Streuner. Die Handwerker trugen Hemden, Wämser und wollene Beinkleider. Der Streuner hatte nackte Beine und trug nur ein paar Lumpen am Leib. Die Hände der Gefangenen waren nicht gefesselt, aber sie waren an den Knöcheln mit einer Kette miteinander verbunden. Schweigend erklommen sie, gefolgt von den Bütteln, den Schinderkarren.
Martin Fleming war der dritte in der Reihe. Er blickte traurig auf seine Verwandten, dann schweiften seine Augen suchend über den Rest der Versammelten.
Ein Stallknecht trat vor, bereit, das Pferd, das vor den Schinderkarren gespannt war, zu führen. Doch plötzlich erklang vom hinteren Rand der Menge her ein aufgeregtes Murmeln, und die Leute traten auseinander. Der Sheriff starrte gereizt auf diesen Unruheherd, dann trat ein Ausdruck des Erstaunens in sein Gesicht. Er sagte etwas zu dem königlichen Gerichtsbeamten, der sich ebenfalls umwandte, um zu sehen, was denn dort los sei. Aber ihre Überraschung war nichts im Gegensatz zu dem Ausdruck von Entsetzen, der auf das bleiche Gesicht Martin Flemings trat, als er auf die Erscheinung starrte, die sich ihm näherte.
Joan ging langsam, doch festen Schrittes. Auf dem Kopf trug sie eine gestreifte Haube, passend zu ihrem weißgestreiften Kleid, dem demütigenden Gewand der gewöhnlichen Prostituierten. In jeder Hand trug sie eine lange, brennende Kerze zum Zeichen ihrer Buße. Ihre Füße waren trotz der Kälte nackt. Vor dem Schinderkarren hielt sie an.
»Ich bin Joan, eine Hure«, sagte sie laut und deutlich. »Will Martin Fleming mich heiraten?« Dabei blickte sie den jungen Mann eindringlich an, um ihm zu verstehen zu geben, daß er an ihre Botschaft denken solle.
In der Menge hob aufgeregtes Murmeln an. Alle starrten auf das junge Mädchen. Der Sheriff und der Gerichtsbeamte sahen sich an. »Was tun wir jetzt?« fragte der Sheriff. »Handelt sie rechtmäßig?«
»Ich denke schon«, meinte der Ritter stirnrunzelnd.
Nun wurden Stimmen laut. Ein untersetzter, kleiner Mann mit einem großen Kopf trat aus der Menge heraus. Sein Gesicht war bleich vor Aufregung, und er fuchtelte wild mit den Armen. »Das ist meine Tochter!« schrie er. »Wir sind ehrbare Leute! Sie ist erst gestern verschwunden. Ich schwöre, daß sie noch Jungfrau ist.« In der Menge hob großes Gelächter an. Joan starrte weiter auf Martin Fleming.
Ihr Vater hatte recht. Bull und auch Silversleeves hatten sie nicht angerührt.
Während Dionysius im Dunkeln mit einer der beiden DoggetSchwestern gekämpft hatte, war die andere in das Dachkämmerchen gehuscht, hatte sich schnell ein Seidennachthemd übergestreift und sich dann auf die Matratze gelegt, während Joan, die ja vor Silversleeves in die Kammer gekommen war, sich in einer Ecke unter einer Decke versteckt hatte. Dort war sie geblieben, bis alles vorüber war und Silversleeves schlief. Der betrunkene Kerl hatte in der Dunkelheit das Dogget-Mädchen bestiegen. Am nächsten Morgen hatten sich die Schwestern vor Lachen über diesen Witz fast nicht mehr beruhigen können.
Nun fragte der Gerichtsbeamte Joan: »Kannst du beweisen, daß du eine Hure bist?«
Sie nickte. »Ihr könnt Euch beim Büttel des Bischofs erkundigen. Ich war im Dog's Head an der Bankside.«
Der Gerichtsbeamte blickte auf den Sheriff. »Wir können den Jungen ja noch einmal in den Kerker zurückschicken, bis wir es geprüft haben«, meinte er. »Wenn sie lügt, können wir ihn morgen auch noch hängen.«
Der Sheriff nickte. Doch da erklang ein heftiger Protestschrei. Der Lombarde hatte allmählich verstanden, was hier vor sich ging. »Nein!« kreischte er und trat vor. »Dieses Mädchen…« – er suchte nach den richtigen Worten – »ist keine Hure. Sie ihn ohnehin heiraten wollen. Dies hier ist Theater. Commedia!« Er starrte Fleming wütend an. »Er ist Dieb. Er muß hängen.«
In diesem Augenblick kam unerwartete Hilfe. Ein rotes, pickeliges Gesicht tauchte aus der Menge auf – Silversleeves. Er hatte eigentlich nach Westminster spazieren wollen, um zuzusehen, wie das Parlament sich versammelte, als er kurz hinter St. Paul's eine kleine Menschenmenge bemerkte, die Richtung Newgate unterwegs war. Er kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Joan an den Schinderkarren herantrat, hörte die
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