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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Isobel geschlafen.

LONDON BRIDGE
1357
    ALS DAS MITTELALTER ZU seiner letzten Blüte ansetzte, waren sich die Menschen zweier Dinge ganz sicher: Zum einen war das irdische Leben zwar reich und aufregend, doch auch flüchtig. Kriege, Seuchen oder ein plötzlicher Tod standen auf der Tagesordnung. Zum anderen gab es einen gewissen Trost: Die Ordnung des Universums war bekannt. Mehr als zwölf Jahrhunderte waren vergangen, seit der große klassische Astronom Ptolemäus es beschrieben hatte, und keiner zweifelte an dieser uralten Autorität.
    Die Erde war der Mittelpunkt des Universums, und obgleich einfache Leute und sogar einige Seefahrer, die fürchteten, über den Rand hinauszusegeln, annahmen, daß die Erde flach sei, begriffen doch die Gelehrten, daß die Erde eine Kugel war. Um diese zentrale Erde herum war das Universum auf einer Reihe konzentrischer Sphären angeordnet, die durchsichtig und daher für die Menschen unsichtbar waren; auf jeder dieser Sphären bewegte sich einer der sieben Planeten, Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Die Astronomen konnten ihre Bewegungen vorhersagen. Außerhalb davon lag eine weitere Sphäre, auf der die Sterne saßen, die sich ebenfalls drehte, obgleich unendlich langsam. »Und außerhalb davon«, erklärten die Gelehrten, »ist der Sitz einer noch größeren Sphäre. Dieses Primum Mobile, dessen Bewegung all die anderen antreibt, wird von Gott persönlich in Gang gesetzt.«
    Die himmlischen Sphären kommunizierten mit den Menschen. Kometen und Sternschnuppen wurden für Botschaften Gottes gehalten. Zwar mißbilligte die Kirche den heidnischen Aberglauben der Astrologie, doch die meisten Christen glaubten an die Macht der Gestirne. Jeder Planet hatte einen Charakter, und sein Einfluß auf die Menschen wurde nicht bezweifelt. Außerdem nahm man an, daß alles Dingliche aus vier Elementen zusammengesetzt war, aus Luft, Feuer, Erde und Wasser, und dementsprechend gab es vier Jahreszeiten und vier grundsätzliche Temperamente bei den Menschen. Alles in Gottes Universum war auf mystische Weise miteinander verbunden.
    Und wenn die Erde in diesem geordneten Universum den Mittelpunkt darstellte, wo lag dann auf dieser Erde der zentrale Punkt des ganzen Systems? Hier gingen die Meinungen auseinander. Die einen hielten Rom, die anderen Jerusalem für diesen Ort. Die Ostkirche beanspruchte diesen Ruhm für Konstantinopel, die Sarazener für Mekka. Für einen echten Londoner war das Zentrum des Universums die London Bridge.
    Inzwischen war die Brücke weitaus mehr als ein Mittel, den Fluß zu überqueren. In den eineinhalb Jahrhunderten, seit sie aus Stein neu errichtet worden war, war auf der langen Plattform über den neunzehn Bögen ein stattlicher Überbau entstanden. Auf jeder Seite des Weges, der breit genug war, daß zwei beladene Karren sich kreuzen konnten, standen große Häuser, die auch noch über den Fluß hinausragten, und manche dieser Häuser waren mit Fußgängerbrücken oberhalb der Straße miteinander verbunden. Nur einer der neunzehn Brückenbögen war nicht bebaut; hier lag die Zugbrücke, so daß sogar die Schiffe mit den höchsten Masten passieren konnten. Es gab zwei große Tore; an dem einen mußten alle Fremden, die in die Stadt wollten, einen Zoll entrichten. In der Mitte stand die alte Kapelle des heiligen Thomas Becket, die inzwischen vergrößert worden war.
    Die massiven Pfeiler, die die Bögen stützten, wurden wiederum von hölzernen Pontonkonstruktionen gestützt, so daß die Brücke eine Art Damm war. Wenn die Gezeiten wechselten und die Flut und die Flußströmung sich an diesem Damm trafen, fiel der Wasserstand an der flußabwärts gelegenen Seite der Brücke mehrere Fuß ab, während sich die Wassermengen auf der flußaufwärts gelegenen Seite stauten. Um die Bögen entstanden reißende Fluten.
    Am südlichen Brückentor wurden für alle sichtbar die Köpfe von Verrätern und Verbrechern aufgespießt. Wenn es im Land etwas zu feiern galt, fanden prächtige Umzüge über die Brücke statt. Die Brücke war das Zentrum der Stadt und von ganz England.
    An einem sonnigen Tag im Mai hatte sich der stämmige Gilbert Bull in ein kurzes, bis zur Taille reichendes Wams und blaugrüne Beinkleider gezwängt. Die Brücke war mit Girlanden geschmückt. An der Stadtseite warteten der Bürgermeister und die Aldermen in ihren roten Roben und Pelzen, und die beiden Amtsstäbe der Stadt, ein goldener und ein silberner, wurden vor ihnen hergetragen. Neben

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