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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Handel. Wieder einmal zeigte England auch hier einige Besonderheiten. Wenn ein französischer Adliger eine reiche Kaufmannstochter heiratete, was oft der Fall war, dann nahm er zwar ihr Geld, hielt sich jedoch persönlich strikt fern vom Handel. Diese kontinentalen Zwänge hatten in England nie richtig Fuß gefaßt, obwohl die normannischen Könige und die Plantagenets Ritter mit nach England gebracht hatten, die diese Einstellung durchaus teilten und noch immer die Mehrheit des Hochadels bildeten. Bull der Kaufmann hatte kaum ein Jahrhundert nach der normannischen Eroberung das Anwesen in Bocton zurückgekauft. Hundert Jahre später hatte sich William Bull dorthin zurückgezogen. Vor Gilberts Geburt unterschieden sich die Bulls von Bocton in nichts von dem restlichen Landadel, der zum Teil aus normannischen Rittern, zum Teil aus früheren Aldermen bestand, die nun auf ihren Besitzungen in der Umgebung von Bocton lebten. Sie sprachen Französisch ebenso gut wie Englisch, beherrschten das Lateinische zumindest ansatzweise schriftlich und leisteten Vasallendienste für ihr Land, meist in Form von Geld. Doch sie wußten, woher ihr Wohlstand stammte, und ihre jüngeren Söhne wurden nach wie vor für Gentlemen gehalten, wenn sie nach London zurückkehrten, um selbst zu neuem Wohlstand zu kommen. Manchmal bekamen sie eine Anstellung am Gericht oder wurden mit Missionen betraut, bei denen ein Gentleman vonnöten war. Obwohl England noch immer eine feudale Gesellschaft war, sicherte sich die sozial vermischte Gesellschaft der Angelsachsen und Dänen auf diese Weise wieder einen festen Platz auf der Insel.
    Der junge Gilbert Bull ging nach London. Er handelte mit Leinen und importierte Tuch und trat in die Gilde der Mercer, der Seiden- und Textilwarenhändler ein. Mit Hilfe von Geld und Familienverbindungen blühten seine Geschäfte rasch. Nun hatte er sich eine Frau ausgesucht. Sie war die Tochter eines bekannten Goldschmieds, besaß Verbindungen zum Landadel und würde mit einer stattlichen Mitgift ausgestattet werden. Sie war nicht sehr groß, doch einigermaßen hübsch. Zwar ließen große, dunkle Augenringe sie oft ein wenig matt erscheinen, doch sie hatte ein heiteres Gemüt und teilte in allem seine Meinung. Einem gemeinsamen Glück schien nichts im Wege zu stehen.
    Gilbert Bull war ein angenehmer Mensch. Alle sagten, daß man sich auf ihn verlassen könne; wie ein echter Bull brach er nie sein Wort; zwar las er gern ab und zu ein Buch und pflegte auch seine mathematischen Neigungen, aber dies waren kleinere Schwächen. Der einzige Makel in seinem geordneten Wesen war wohl eine düstere Erinnerung, die er mit vielen anderen teilte und die ihn sehr vorsichtig machte, sehr darauf bedacht, die Welt um sich herum zu kontrollieren.
    1361
    Es war Frühling, und die Sonne stand im Zeichen des Taurus. In den frühen Morgenstunden hatte es ein wenig geregnet, nun trieb eine feuchte Brise aus dem Süden die Quellwolken über einen blaßblauen Himmel hinweg. London glitzerte in der warmen Sonne, und vom Boden stieg ein leichter Dunst auf. Am Südende der Brücke standen zwei Männer und blickten auf ein Baby, das neben einem leeren Faß am Rand einer vielbesuchten Straße abgelegt worden war. Es war in ein weißes Tuch gewickelt und wirkte recht zufrieden. Weit und breit waren keine Eltern zu sehen.
    »Wahrscheinlich ausgesetzt«, meinte der jüngere Mann. Er war noch keine zwanzig und hatte ein breites, intelligentes Gesicht, das ein dunkelbrauner, zweigeteilter Kinnbart zierte. »Was meinst du, wie alt es ist?«
    »Etwa drei Monate«, erwiderte Bull.
    »Er sieht dich an, Gilbert.« Etwas an dem Baby schien darauf hinzuweisen, daß es sich um einen Jungen handelte. »Es wäre wirklich schade, ihn hierzulassen.« Unerwünschte Babies endeten oft genug im Fluß.
    Bull seufzte. Er hatte ein großes Haus. Er hätte es sich leisten können, das Kind aufzunehmen. »Ich würde ihn ja gerne retten«, sagte er. »Aber das Risiko…«
    Diesen Satz brauchte er nicht zu beenden; beide wußten, was er meinte. Das Baby könnte den Tod bringen.
    Die dunkle Erinnerung. Seitdem waren dreizehn Jahre vergangen. Die Sterndeuter hatten vor einem schrecklichen Unheil gewarnt, doch man hatte nicht auf sie gehört. Im Jahr davor war die Ernte sehr schlecht ausgefallen, und in London hatten sich viele Arme nicht satt essen können. Der Winter war sehr streng gewesen. Dann hatte es tagelang geregnet. Die Themse war über ihre Ufer getreten und ein gutes

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