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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Stück den Ludgate Hill hinaufgeklettert. Der Regen war in Flüssen den Cornhill hinabgelaufen, in Strömen in den Rinnsteinen am West Cheap entlanggeflossen; er hatte die Wegfurchen ausgespült und die Gassen in dunklen Morast verwandelt; er hatte die Keller mit Feuchtigkeit erfüllt, deren übler Geruch durch die Bodenbretter in die Häuser stieg; er hatte in den unterirdischen Gewölben die Ratten ertrinken lassen. Als der Regen endlich nachließ, entströmte der alten Stadt ein feuchter, ungesunder Atem unter einer blaßgelben Sonne.
    Und dann kam zu Beginn des Sommers 1348 die Pest.
    Sie hatte bereits einen Großteil Europas verwüstet und reiste mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Der schwarze Tod kam auf die britische Insel und tötete etwa ein Drittel der Bevölkerung. Schreckliche Geschwüre und Beulen traten auf, gefolgt von heftigem Fieber und verstopften Lungen; meist trat innerhalb von wenigen Tagen der Tod ein.
    Für Gilbert waren es düstere Erinnerungen. An dem Tag, als die Seuche in London Einzug gehalten hatte, war er nach Bocton gefahren und dort einen Monat lang bei seiner Familie geblieben. Auf Befehl seines Vaters war das Anwesen auf dem Hügelkamm von der Außenwelt abgeriegelt worden. Die Bewohner des Herrenhauses und seines Weilers verließen ihren Wohnsitz nicht, und niemand durfte zu Besuch kommen. Sie warteten alle zusammen ab. Dank Gottes Gnade ging die Pest an ihnen vorbei.
    Als Gilbert nach London zurückkehrte, hatte die Welt sich verändert. Auf dem Land hatte der schwarze Tod die Arbeitskräfte derart verknappt, daß die Grundherren sich um Leute für die Bearbeitung ihres Landes stritten. Das alte System der Leibeigenschaft brach zusammen. In den Städten hatten sich ganze Straßenzüge geleert. Doch London erholte sich erstaunlich rasch. Neue Einwanderer strömten in die Stadt. Die Kinder der Überlebenden begannen, die klaffende Leere mit neuem Leben zu füllen. Die Stadt schien wieder zu ihrem Normalzustand zurückzukehren. Doch die Pest hatte sich nur zurückgezogen, sie war nicht völlig verschwunden. Mehr als drei Jahrhunderte lang tauchte sie immer wieder plötzlich auf und zerstörte das muntere Leben einer Stadt, bevor sie ebenso plötzlich wieder verschwand. In diesem Frühling war sie wieder aufgetaucht und hatte in mehreren Londoner Pfarreien zugeschlagen. In Southwark hatte es viele Tote gegeben. Wenn dieses Kind nun ausgesetzt worden war, bestand die Möglichkeit, daß seine Eltern an der Pest gestorben waren. Bull zauderte.
    »Seit einer Woche hat es keine neuen Fälle mehr gegeben«, sagte sein Freund. »Wenn dieses Baby infiziert wäre, dann wäre es inzwischen gestorben. Wenn ich nicht Junggeselle wäre, würde ich es selbst aufnehmen.«
    Sie hatten nicht gemerkt, daß sich ihnen ein Fuhrwerk näherte, und auch die Pfütze neben ihnen war ihnen nicht aufgefallen. Als das Fuhrwerk nun an ihnen vorbeifuhr, spritzte das Wasser hoch. Der jüngere Mann sprang behende zur Seite, doch Bull blickte düster an seinem schlammbespritzten, roten Umhang hinab.
    Da lachte das Baby. Das kleine, runde Gesicht wandte sich belustigt Bull zu. »Was für ein fröhlicher kleiner Bursche«, sagte der Jüngere. »Komm, wir retten ihn, Gilbert!« Und so hob Bull das Baby auf.
    Als sich die beiden Männer auf der Brücke trennten, blickte Gilbert Bull auf das kleine Bündel in seinen Armen. »Jetzt kannst du mal sehen, was dieser Kerl mit mir angerichtet hat«, murmelte er lächelnd. Er kannte seinen jungen Freund seit mehreren Jahren. Sein Vater und sein Großvater waren im Weinhandel tätig gewesen, er selbst hatte eine Stellung im Dienst des Königs angetreten. Seine Vorfahren waren wohl Schuhmacher, nahm Bull an, denn sein Name leitete sich von dem französischen Wort für Schuhe, chaussures, her. Er mochte den jungen Geoffrey Chaucer sehr.
    »Du heißt Ducket, wir heißen Bull.« Dies war der erste Satz, an den er sich erinnern konnte. Wie groß und eindrucksvoll der Kaufmann gewirkt hatte, als er diese Worte äußerte, nicht unfreundlich, doch bestimmt. Bis zu diesem Augenblick hatte der kleine Junge immer angenommen, daß er zur Familie gehöre. Jetzt verstand er, daß dies nicht so war. Es wurde ihm an dem Tag mitgeteilt, an dem den Bulls eine Tochter geboren wurde. Damals war er fünf.
    Woher kam er eigentlich? Der freundliche junge Chaucer hatte ein paar Tage, nachdem man ihn aufgenommen hatte, die Identität des Babys herausgefunden. »Ich habe mich umgehört«, erklärte er

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