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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Baltikum, eine Schiffsladung Seide aus dem Orient – sie kauften die gesamte Ware auf, hielten sie in Lagern zurück und warfen immer nur geringe Mengen zu überhöhten Preisen auf den Markt. Vom Herbst 1385 bis zum Mai 1386 schlugen die beiden fünfmal zu. Am Ende dieser Zeit war Whittington eine prominente Person bei den Seidenhändlern, und auch Geoffrey Bull war ein reicher Mann geworden.
    Geoffrey Bull hatte in den zehn Monaten seit Bulls Abreise ein Vermögen gemacht, und sein Glück in den letzten paar Wochen machte ihn nahezu sprachlos. Die mächtige GrocerGilde kontrollierte die Stadt. Der Mayor und die wichtigsten Aldermen gehörten dieser Gilde an. Wie bei allen erfolgreichen Organisationen blickten ihre Führer in die Zukunft. Die Aktivitäten von Bulls Schwiegersohn beeindruckten sie sehr. Eine Reihe von Gildemitgliedern hatte ebenfalls einen stattlichen Profit gemacht. »Er wird von Bull noch ein großes Vermögen erben«, bemerkte ein Alderman zu Recht. »Wer würde es schon gern sehen, wenn er zu den Mercern überwechseln würde? Das sollten wir nicht zulassen; wir sollten etwas für ihn tun!«
    Geoffrey Bull wurde von seiner Gilde zum Amtmann ernannt – eine bemerkenswerte Leistung für einen knapp Sechsundzwanzigjährigen. Zwei Wochen später wurde ein weiterer Posten frei, und so wurde er Ratsmitglied seines städtischen Bezirks. »Ist dir klar, daß dies der erste Schritt hin zum Alderman ist?« erklärte ihm Tiffany hocherfreut.
    Doch trotz alledem gab es etwas, das ihn unzufrieden machte. Was immer ich in meinem Leben tue, dachte er, ich werde mich immer Bull nennen müssen; nie mehr darf ich meinen eigenen Namen, Ducket, tragen. Nicht er, sondern Tiffany brachte dieses Thema schließlich zur Sprache. »Du haßt es, nicht wahr?« fragte sie ihn. Er stritt es ab, doch sie überraschte ihn mit den Worten: »Ich hasse es genauso.«
    Und das stimmte auch. Sie war zwar stolz auf ihren Namen und ihr Vermögen, aber sie ärgerte sich oft darüber, daß ihre Freundinnen darüber tuschelten, daß sie unter ihrem Stand geheiratet hatte. Sie wollte ihnen zeigen, daß sie einen Mann hatte, den alle bewunderten.
    Schließlich fiel ihr etwas ein. »Wir tun das hinter dem Rücken deines Vaters«, wandte ihr Mann ein. Aber Tiffany ließ sich nicht davon abbringen. »Überlasse Vater nur mir!« sagte sie.
    So trat an einem sonnigen Juninachmittag des Jahres 1386 ein sehr nervöser Geoffrey Bull, ehemals Ducket, aus seinem Haus auf dem Oyster Hill und ging nach Coldharbour zu einem großen Haus, in dem einer der geachtetsten Beamten des Königreichs seinen Geschäften nachging.
    Das College of Arms, das Wappenamt in Coldharbour, war ein respektgebietendes Gebäude. Sein großes Eichentor war stets auf Hochglanz poliert. Nachdem ein Diener in einer prächtigen Amtstracht den jungen Geoffrey Bull hereingelassen hatte, stand dieser in einer stattlichen Halle, unter deren Holzdach die farbenprächtigen Banner vieler Ritter und Lords hingen. Er wartete ein Weilchen, bis ein Sekretär ihn durch zwei weitere Räume in einen riesigen, viereckigen Saal führte, in dessen Mitte hinter einem dunklen Tisch der Master der königlichen Herolde, Richard Spenser, Clarenceaux King of Arms und Earl Marshai of England, saß. Er bedeutete dem jungen Mann, sein Anliegen vorzutragen, und Geoffrey folgte seiner Aufforderung. »Ich frage mich, Sir«, meinte er abschließend, »ob ich wohl ein Wappen bekommen könnte.«
    Ein einfacher Kaufmann, ein Bursche, der nicht das kleinste Stückchen Land sein eigen nennen konnte, bat um ein Wappen, als sei er ein Ritter von uraltem Geschlecht? Ein Händler, der sich in das Heiligtum der Herolde vorwagte, wo die Banner von Baronen, Grafen und Plantagenet-Prinzen hingen? Absurd!
    Bis auf die Tatsache, daß es in England gar nicht so gesehen wurde. Denn wie Londoner Kaufleute zu Landadligen werden und die jüngeren Söhne von Landadligen sich dem Handel zuwenden konnten, verbarg sich hinter den feudalen Erscheinungsformen der Gesellschaft und den Würden, die sie verlieh, oft eine viel praktischere Realität. Selbst der begehrte Ritterstand war nicht unerreichbar. Vor hundert Jahren hatte Eduard I. erlassen, daß reiche Kaufleute Ritter werden konnten, denn dann schuldeten sie ihm Lehnsabgaben, mit denen er seine Söldnerarmee bezahlen konnte. Bei der Vergabe von Wappen war das System sogar noch flexibler.
    Es war ja schließlich eine künstliche Erfindung. Bis zum Aufkommen der Ritterturniere in

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