London
Friedensrichters hatte sich seit einiger Zeit herausgebildet. Es war ein gutes, vernünftiges System, in dem die ortsansässigen Landadligen, beraten von professionellen Rechtsbeamten, bei speziellen Rechtsfragen den Vorsitz an den Gerichtshöfen der Grafschaften übernahmen. Geoffrey Chaucer war dazu befähigt, denn als königlicher Beamter hatte er ein kleines Anwesen in Kent zugewiesen bekommen.
Bull willigte schließlich ein, doch vor seinem Aufbruch mußte er noch eine wichtige Entscheidung fällen. Wer sollte sich während seiner Abwesenheit um seine Geschäfte kümmern? Ducket zeigte zwar einen überraschenden Geschäftssinn, und Bull hatte bald richtig Freude daran, ihm alles zu zeigen, was er wußte, doch eines mißfiel dem Kaufmann: Der junge Mann hatte zwar eingewilligt, seinen Namen aufzugeben und Bulls Namen anzunehmen, aber er weigerte sich, in die Gilde der Mercer einzutreten, obwohl Bull ihm sofort Zugang verschafft hätte. »Ich habe bei der GrocerGilde meine Lehre gemacht«, erklärte er, »und das ist auch das Geschäft, in dem ich mich auskenne.« Nichts konnte seine Loyalität ins Wanken bringen. Die Tatsache, daß die Grocer momentan in der Stadt das Sagen hatten und nicht die Mercer, machte Bull auch nicht besonders froh – kurzum, er war sich einfach nicht sicher, ob er seine geschäftlichen Angelegenheiten schon zu diesem Zeitpunkt seinem Schwiegersohn anvertrauen sollte. Deshalb wandte er sich an Whittington.
Whittington war nun Mitte Dreißig, ein gewichtiger Mann und ein Mitglied der Mercer-Gilde. Er und Ducket waren immer Freunde gewesen. »Es wäre mir recht, wenn ihr euch gemeinsam um meine Angelegenheiten kümmern würdet, solange ich weg bin«, unterwies Bull die beiden. Höchst zufrieden mit dieser Regelung verließ er die Stadt.
In Kent traf er die Friedensrichter im Rochester Castle. Es war eine große Gruppe, die, abgesehen von den fünf Rechtsbeamten, vorwiegend aus dem Gefolge oder den Mitgliedern der größten Landbesitzerfamilien der Grafschaft bestand. Bull hatte sich nie in solchen Kreisen bewegt, doch Chaucer kam ihm gleich zu Hilfe. »Gentlemen«, erklärte er lächelnd, »ich bin so neu in dieser Grafschaft, daß ich meinen lieben Freund gebeten habe, mich zu begleiten und mich anzuleiten. Er stammt von den Bulls aus Bocton ab, einer uralten kentischen Familie.« Dies wirkte sofort. »Die sind schon länger hier als wir«, erklärte ein Grundherr. Am Ende dieses Tages begegneten sie Bull so freundlich, als hätten sie ihn sein ganzes Leben lang gekannt.
Wie Chaucer sich schon gedacht hatte, blieb Bull keine Zeit zum Grübeln, denn sie waren ständig unterwegs. Das Geschäft der Rechtsprechung in den Städten, Dörfern und auf den Herrensitzen in der ganzen Grafschaft machte Bull und dem Dichter großen Spaß.
Ein Steuereintreiber war verprügelt worden, die Scheune eines Freibauern war in Brand gesteckt worden, einem Müller war das Mehl gestohlen worden, ein einfacher Bauer hatte sich geweigert, die Arbeit, die er seinem Herrn schuldete, zu leisten. Alle traten sie vor das Gericht, machten ihre Aussagen und wurden in einfachem Englisch befragt. Ortsansässige Ratgeber lieferten Informationen, lokale Bräuche wurden geachtet, und Friedensrichter wie Chaucer sprachen das Urteil. Den meisten Spaß machte es Bull, wenn er abends in einem Gasthaus mit dem Dichter die Ereignisse des Tages erörtern konnte.
Chaucer war in letzter Zeit etwas behäbiger geworden; sein Kinnbart zeigte die ersten grauen Haare, sein Gesicht und seine Augen waren manchmal gerötet. Doch nichts entging seiner Aufmerksamkeit. »Hast du die Warze auf der Nase des Bettelmönchs gesehen?« fragte er ganz unerwartet; oder: »Dieser Vogt hat mit der Müllersfrau getechtelt – hast du gesehen, was für schöne Augen sie ihm gemacht hat?« Und dann pflegte er leise zu kichern. »Je verachtenswerter diese Leute sind, desto mehr scheinst du sie zu mögen«, tadelte Bull ihn einmal. Doch Chaucer schüttelte nur den Kopf. »Ich liebe sie alle«, sagte er schlicht. »Ich kann nicht anders.«
Im April statteten die zwei Männer Bocton einen Besuch ab, wo Bulls Bruder sie herzlich willkommen hieß. Als sie am folgenden Morgen in der warmen Frühlingssonne die Landstraße Richtung Canterbury hinabritten, sagte Chaucer: »Ich habe eine Idee für ein großes neues Werk. Ich habe eine Menge höfischer Verse verfaßt. Schon lange wollte ich etwas völlig anderes ausprobieren. Sieh dir doch mal all diese Leute
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