London
an, mit denen wir tagtäglich am Gericht zu tun haben – die Freibauern, Müller, Mönche und Fischweiber. Sie alle würde ich gerne einmal zu Wort kommen lassen, genauso wie die Menschen am Hof.«
»Aber wie willst du denn die Sprache des gemeinen Volkes in Versform fassen?« wandte Bull ein.
»Wie wäre es, wenn jeder von ihnen eine kleine Geschichte erzählen würde, wie bei dem italienischen Dichter Boccaccio? Und während sie ihre Geschichten erzählen, offenbaren sie sich selbst.«
»Aber die gewöhnlichen Leute sitzen nicht herum und erzählen sich Geschichten wie die faulen Leute am Hof«, bemerkte Bull.
»Aber ja doch«, erwiderte sein Freund. »Sie tun es, wenn sie zusammen reisen. Und wann reisen Männer und Frauen aus den unterschiedlichsten Schichten zusammen? Auf ebendieser Straße! Pilger, Bull, Pilger, die sich von Wirtshäusern wie dem ›George‹ auf ihren Weg zu Beckets Schrein nach Canterbury machen. Ich könnte Dutzende Geschichten erzählen und sie aneinanderreihen. Ich werde mein Werk die ›Canterbury Tales‹ nennen. Es soll mein Lebenswerk werden.«
»Wenn dies die Krönung deines Schaffens werden soll«, sagte Bull, »dann laß es bitte nicht zu, daß dein Talent vergeudet wird und dein gesamtes Werk verlorengeht. Schreibe es in Lateinisch!«
Bulls Bitte war durchaus vernünftig. Als Geoffrey Chaucer seine Verse in Englisch verfaßte, ging er ein großes Risiko ein. Die englische Sprache als solche gab es gar nicht. In ganz England sprach man zwar verwandte Dialekte, aber ein Mann aus Kent und einer aus Nordhumbrien konnten sich kaum verstehen. Als ein Mönch aus dem Norden die Geschichte von Sir Gawain und dem Grünen Ritter verfaßte oder der Dichter Langland von Piers Plowman schrieb, waren diese Werke zwar in Englisch verfaßt, aber sie strotzten von nordländischen Anspielungen und Ausdrücken aus dem alten Angelsächsischen, so daß sie, verglichen mit der höfischen Sprache Chaucers, sehr grob und sogar komisch wirkten. Zum Teil aus sächsischem Englisch, zum Teil aus normannischem Französisch bestehend und mit einer Vielzahl latinisierter Wörter versehen, war Chaucers Englisch die Sprache des Hofes und der Oberschicht Londons. Aristokraten fielen in ihren Unterhaltungen problemlos in das Französische, Gelehrte in das Lateinische. Auch das Londoner Englisch änderte sich ständig. »Lateinisch ist am besten«, bedrängte Bull seinen Freund, »denn diese Sprache wird es immer geben.« In ganz Europa lasen und sprachen die Menschen Lateinisch. Es war ein guter Rat.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Chaucer, und sie setzten ihren Weg fort.
Nur wenige Geschäftsstrategien sind so ertragreich, aber auch so verhaßt wie die Taktik, einen Markt in die Enge zu treiben. Man muß nur die gesamten vorhandenen Bestände eines gerade gefragten Gutes aufkaufen, einen künstlichen Engpaß schaffen und dann zu einem hohen Preis verkaufen. Solche Geschäfte sind meist sehr umfangreich und erfordern die Mitwirkung eines ganzen Rings von Kaufleuten. Im mittelalterlichen London hieß diese Praxis »Aufkauf« und war illegal.
Geoffrey Bull, ehemals Ducket, und Richard Whittington gingen sehr geschickt vor. Bull hatte ihnen eine bemerkenswerte Ausgangslage hinterlassen. Zum einen konnten sie über Bulls ansehnliche Einkünfte verfügen – Mieten von den Besitzungen in der Nähe der Brücke sowie Gewinne aus dem Wollexport nach Flandern, aus dem Tuchimport und aus lange etablierten Geschäften mit den Hansekaufleuten. Aber nicht nur das verfügbare Geld war so aufregend, sondern vor allem Bulls Kredit. »Mit so einem Kredit kann man riesige Spekulationsgeschäfte tätigen«, bemerkte Whittington.
Und genau dies taten sie. Ducket hatte sich das System ausgedacht, nach dem sie vorgingen. Die beiden Verwalter von Bulls Vermögen kamen aus verschiedenen Gilden, aus zwei Gilden, die zu der Zeit sehr schlecht aufeinander zu sprechen waren. Als Duckets Grocer-Gruppe eine große Menge Ware kaufte und Whittingtons Mercer-Gruppe nahezu den gesamten Rest, ging man auf dem Markt davon aus, daß die beiden Gruppen Rivalen seien. Klugerweise achteten die beiden immer darauf, ein wenig übrigzulassen, so daß auch einige der mittleren Händler von dem von ihnen gesteuerten Preisanstieg profitieren konnten. Die beiden Männer verlegten sich auf Luxuswaren, deren Preise nicht reguliert waren und für die auch nicht so rasch Nachschub herangeschafft werden konnte. Pfefferkörner, Pelze aus dem
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