Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
ihr Vater sie, ein Jahr vor seinem Tod – sie war damals fünf-, zum Hof mitgenommen hatte. Während sie durch die große Halle schritten, war die prachtvollste Gestalt, die sie je gesehen hatte, auf sie zugekommen. Groß, die breite Brust in einem juwelengeschmückten Waffenrock mit mächtigen runden Schulterpolstern, war Heinrich ein majestätischer Riese. Seine engsitzenden Kniehosen zeigten die kräftigen Beine eines Athleten, im Schritt einen bauschigen Hosenbeutel, ausgepolstert, um die Geschlechtsteile zu betonen. Ihr Herz hatte einen Schlag lang ausgesetzt, als plötzlich ein Paar gewaltiger Arme sie gepackt und hochgehoben hatte, so daß sie in sein schönes Gesicht mit den weit auseinanderstehenden fröhlichen Augen und einem akkurat gestutzten rotbraunen Bart blicken konnte.
    »Das ist also Sein kleines Mädchen«, hatte der mächtige Monarch gelächelt, als er sie an sich gezogen und ihr einen Kuß gegeben hatte.
    Kein Fürst in Europa entfaltete größere Pracht als Heinrich von England. England mochte klein sein – mit weniger als drei Millionen war die Bevölkerung Englands nur ein Fünftel so groß wie die des inzwischen vereinigten Königreichs Frankreich –, doch diesen Mangel glich Heinrich mit seinem luxuriösen Lebensstil aus. Er war ein Renaissancefürst par excellence: athletischer Sportsmann, begabter Musiker mit gelegentlichem Hang zum Gelehrten und unermüdlicher Baumeister von Palästen. Bei Flodden hatte seine Armee die Schotten vernichtend geschlagen; mit einem prachtvollen Umzug auf dem Field of the Cloth of Gold, einem Turnierfeld mit goldenen Zelten in der Nähe von Calais, hatte er den Frieden mit dem französischen König besiegelt. Doch eines war am wichtigsten. Zu einer Zeit, da sich die Christenheit in der größten Bedrängnis seit tausend Jahren befand, war Heinrich von England fromm.
    In die Frühzeit von Heinrichs Regentschaft fiel Martin Luthers religiöses Aufbegehren in Deutschland. Wie zuvor bei den englischen Lollarden, Anhängern des Theologen Wyclif, waren die ursprünglichen lutherischen Forderungen nach einer Kirchenreform bald zu einer massiven Kampfansage an die katholische Doktrin geworden. Es dauerte nicht lange, und die Protestanten leugneten das Wunder der Messe und die Notwendigkeit des Bischofsamtes; sogar die Ehe von Priestern wurde bejaht. Und unerhörterweise gab es regierende Fürsten, die solchen Ansichten wohlwollend gegenüberstanden. Nicht jedoch König Heinrich. Als deutsche Kaufleute lutherische Flugschriften nach London schmuggeln wollten, erstickte er diesen Versuch im Keim. Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments wurde öffentlich in der St.-Paul's-Kathedrale verbrannt. Der gelehrte König hatte selbst eine so großartige Schrift zur Widerlegung des Ketzers Luther verfaßt, daß der dankbare Papst ihm einen neuen Titel verlieh: Verteidiger des Glaubens.
    Was Heinrichs jüngste Meinungsverschiedenheiten mit dem Papst hinsichtlich seiner Ehegattin betraf, hatte Susan wie viele gläubige Engländer großes Mitleid mit ihrem König. »Ich bin nicht bereit, ihn jetzt schon zu verurteilen«, sagte sie.
    Der Park vor dem Hampton Court, der große Obstgarten, war ein typisches Beispiel für solche Anlagen um einen Palast – ein kunstvolles Ensemble streng architektonisch angelegter Gärten, Pavillons, Lauben und lauschiger Plätzchen, die der prunkliebende König Heinrich mit verschiedensten Wappentieren, Sonnenuhren und anderen Ornamenten aus bemaltem Holz oder Stein geschmückt hatte. Es war Zufall, daß Susan das Gewisper hörte, als sie an einer hohen grünen Hecke, die einen der Gärten umschloß, vorbeikam.
    Daniel Dogget stand an der Landungsbrücke von Hampton Court, blickte auf seine sitzende Frau und ihren kleinen, stämmigen Bruder hinab und dachte nach. Dan Dogget war ein Riese. Mehr als zwei Jahrhunderte waren vergangen, seit Barnikel von Billingsgate die Schwestern Dogget am Flußufer besucht und eine der beiden geschwängert hatte. Das Kind erbte die Statur der Barnikels, aber Teint, Haarfarbe und Namen der Schwestern. Abgesehen von ihrer Größe und dem ein wenig veränderten Namen waren seine Kinder von ihren Vettern der alten Familie Ducket kaum zu unterscheiden; doch zur Zeit des Schwarzen Todes, als Bull den kleinen Geoffrey Ducket aufgenommen hatte, war es vor allem der Familienzweig Dogget, der überlebte. Dan Dogget war etwa einen Meter neunzig groß, von schwerem Knochenbau, aber mager, mit einer dichten schwarzen

Weitere Kostenlose Bücher