London
der tröstliche, zuverlässige Peter. Obwohl er ihr Halbbruder aus erster Ehe war, fühlte sie sich ihm näher. Peter, der Älteste der Familie Meredith, hatte die Stelle des Vaters eingenommen, als dieser jung gestorben war. Peter war das Gewissen der Familie. Es hatte sie nicht überrascht, als er den Priesterstand wählte.
Es gab in London keinen besseren Gemeindepfarrer als Pater Peter Meredith. Seinen Gläubigen im Kirchsprengel war die tröstliche Erscheinung des großen, mit vierzig Jahren fast schon glatzköpfigen und liebenswert rundlichen Priesters vertraut und angenehm. Er war ein kluger Mann, und hätte er in seiner Jugend nicht ein wenig zur Faulheit geneigt, wäre vielleicht ein glänzender Gelehrter aus ihm geworden. Seine Pfarrei St. Lawrence-Silversleeves war keine Stelle für jemanden mit Ehrgeiz. Dennoch war er zufrieden. Er hatte die kleine Kirche mit ihrem dunklen Lettner restaurieren lassen, und während seiner Amtszeit hatte sie zwei schöne neue Buntglasfenster bekommen. Er kannte jedes seiner Pfarrkinder mit Namen; die Frauen mochten seine herzliche Art, weil sie wußten, daß er sich an das Gelübde des Zölibats hielt, und er konnte mit den Männern trinken, dabei aber doch eine freundliche Würde wahren. Seine Predigten waren einfach, seine Gespräche nüchtern und bodenständig. Er war ein gediegener katholischer Priester.
Doch im letzten Jahr war er ernstlich erkrankt und hatte den Entschluß gefaßt, sich in das große Kloster Charterhouse in London zurückzuziehen; zuvor hatte er eine Pilgerfahrt nach Rom angetreten. Dort war er noch immer. Um Rat über diese heutige Angelegenheit zu bekommen, hatte sie ihm schreiben müssen. Zum zwanzigsten Mal hatte sie heute vormittag seine Antwort gelesen: »Ich kann dir nur raten, deinem Gewissen zu folgen. Dein Glaube ist stark. Bete also, und du wirst wissen, was du tun sollst.« Sie hatte gebetet. Und dann war sie hierhergekommen.
Irgendwo im großen Labyrinth von Hampton Court war ihr Gatte Rowland. Eine Stunde war es her, daß Thomas ihn hineingeführt hatte – zu der wichtigsten Begegnung seines Lebens. Sie hatte ihn noch nie so am Rande seiner Belastbarkeit erlebt. Drei Tage lang hatte er immer wieder Anfälle von Übelkeit gehabt und so totenbleich ausgesehen, daß Susan, wäre sie nicht an seine angespannte, nervöse Konstitution gewöhnt, womöglich gedacht hätte, er sei wirklich krank. Er tat es für sie und für die Kinder, aber auch für sich selbst. Vielleicht wünschte sie deshalb so sehr, daß er Erfolg hatte.
Ihr Gatte war das größte Geschenk, das Peter ihr gemacht hatte. Peter hatte Rowland kennengelernt und ihn mit einer Botschaft zu ihr gesandt: Das ist er. »Hol's der Teufel«, hatte Thomas gemurrt. »Der eine sieht auch noch genauso aus wie der andere.« Und es stimmte; Peter und Rowland, beide stämmig gebaut und früh ihr Haar verlierend, glichen sich sehr. Doch trotz dieser oberflächlichen Ähnlichkeit bestand ein wesentlicher Unterschied. Der Mönch war der ältere und klügere der beiden, doch Rowland hatte einen stillen Ehrgeiz, der Peter fehlte. Nun hatte Rowland seine Chance. Wenn das Gespräch, das Thomas verabredet hatte, erfolgreich war, bedeutete das ein Betätigungsfeld für seine Gaben und eine Erleichterung ihrer endlosen Geldsorgen. Es muß richtig sein, sagte sie sich, wenn sie an die Kinder dachte. Und es gab noch einen weiteren Trost. Was auch immer sie vom höfischen Leben halten mochte, so wußte sie doch, daß Höfe ein notwendiges Übel waren und die Höflinge nur Diener. Dahinter stand die entscheidende Gestalt, der sie verpflichtet waren: der Freund ihres Vaters, der Wohltäter ihres Bruders, der Mann, den zu lieben und dem zu vertrauen man sie ihr ganzes Leben lang gelehrt hatte, König Heinrich, Englands frommer König, Oberhaupt des Hauses Tudor.
Die Dynastie der Plantagenets hatte sich in den furchtbaren Familienfehden zwischen Johann von Gents Haus Lancaster und dem rivalisierenden Haus York, die als die Rosenkriege in die Geschichte eingehen sollten, aufgerieben. Dabei waren so viele königliche Prinzen umgekommen, daß eine bisher unbekannte Familie aus Wales, die zufällig in das alte Königshaus eingeheiratet hatte, aufsteigen konnte. Als Heinrichs Vater vor fünfzig Jahren Richard III. den letzten Herrscher des Hauses Plantagenet, bei der Schlacht von Bosworth geschlagen hatte, war die Tudor-Dynastie auf dem Thron etabliert worden.
Susan konnte sich immer noch daran erinnern, wie
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