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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Haarmähne, die über der Stirn eine weiße Strähne hatte. Er war der stärkste Fährmann auf der Themse und konnte eine über die Brust gespannte Kette sprengen. Bereits mit zwölf Jahren hatte er mit den Männern mitrudern dürfen; als er zwanzig war, wollte sich keiner mehr mit ihm anlegen, nicht einmal in den Wirtshäusern am Ufer, wo es hart zuging.
    »Was hast du nun vor?« fragte der kleine Mann erneut. »Deine Schwierigkeit, Daniel, liegt darin, daß du zu viele Verpflichtungen hast.« Dogget erwiderte nichts. Er hing zärtlich an seiner rundlichen Frau und den gemeinsamen Kindern, er half der Familie seiner Schwester, und nun, nachdem Carpenters Frau bei der Geburt des vierten Kindes gestorben war, hatte er seine eigene Frau mit den Kindern flußaufwärts von Southwark nach Hampton Court gebracht, wo Carpenter arbeitete. »Sie können bei dir wohnen, bis wir eine Lösung finden«, bot er an, und Carpenter war natürlich dankbar. Aber da war auch noch sein Vater.
    Vor einem Jahr hatte er den alten Mann bei sich in Southwark aufgenommen – und er hatte es bereut. Nach Will Doggets jüngster Eskapade im Zustand der Trunkenheit hatte Dan zugegeben: »Ich werde nicht mehr mit ihm fertig.« Aber er konnte den alten Mann auch nicht einfach hinauswerfen. Er hatte es bei seiner Schwester versucht, doch auch sie wollte ihn nicht aufnehmen. Wie immer eine Lösung aussehen mochte, man konnte sicher sein, daß es Geld kosten würde. Und wenn er nicht stehlen wollte, gab es nur eine Möglichkeit, dieses Geld zu bekommen. Sein Blick glitt über die Barken, die am Ufer vertäut waren. War eine von ihnen vielleicht die Antwort?
    Obwohl ganz unterschiedlich groß, waren alle Passagierboote auf der Themse nach demselben Grundmuster gebaut. Ihre Konstruktion entsprach im wesentlichen den Langschiffen der Wikinger, mit einem flachen Kiel und Planken, die überlappend wie Ziegel in langen, schnittigen Linien angeordnet waren. Das Bootsinnere war in zwei Abschnitte geteilt: vorne die Ruderbänke, hinten die Passagiere. Es gab die ganz einfachen Ruderboote, die breiten, flachen Fährboote mit einem oder zwei Ruderern. Dann gab es längere Barken mit mehreren Ruderpaaren und in der Regel einem Baldachin über den Passagieren. Diese hatten häufig auch ein Steuer mit Steuermann. Und schließlich fuhren auf dem Fluß auch die mächtigen Kähne der großen Schiffahrtsgesellschaften der Stadt mit eigenen Deckaufbauten für die Passagiere, wundervoll geschnitzten Schiffsschnäbeln und mindestens einem Dutzend Ruderpaaren, so etwa die vergoldete Barke des Lord-Mayor von London, die an der Spitze der jährlichen Flußprozession über die Themse glitt.
    Daniel liebte sein Leben als Fährmann. Körperlich mochte die Arbeit schwer sein, aber dafür war er gebaut. Wenn er spürte, wie die Ruderblätter geschmeidig ins Wasser tauchten, wenn er den Geruch der Flußalgen schnupperte, während das Boot sich schaukelnd bewegte, erfüllte ihn eine Zufriedenheit, die nicht übertroffen werden konnte. Wie gut er den Fluß kannte – jedes Ufer, jede Biegung, von Greenwich bis Hampton Court.
    Arbeit gab es genug. Da die London Bridge immer noch die einzige Straße war, die über die Themse führte, so daß sich der Verkehr häufig staute, fuhren stets schnelle Fährboote über den Fluß in die Innenstadt und nach Westminster. Für längere Fahrten war die Wasserstraße zwar nicht schneller, aber bequemer. Nicht wenige Höflinge, die morgens in Hampton Court sein mußten, streckten sich auf den Kissen in einer der vornehmen Barken aus und ließen sich von in prachtvolle Livreen gekleideten Fährmännern während einer warmen Sommernacht flußaufwärts rudern. Es war viel angenehmer, als im Morgengrauen über die von zahlreichen Furchen durchzogene King's Road zu fahren, die an Chelsea vorbei zum königlichen Palast führte. Die Fährmänner wurden gut bezahlt, vor allem wenn man die Trinkgelder hinzurechnete.
    Könnte er nur eine Anstellung auf einer der Prunkbarken finden, dachte Dogget, würde er sehr viel mehr verdienen. Doch um die guten Stellen zu bekommen, selbst in der bescheidenen Gilde der Fährmänner, mußte man gute Beziehungen haben.
    Die beiden Männer waren fröhlich, als sie durch den großen Hof schritten. Rowland Bull lachte erleichtert. Das Gespräch war besser verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Für einen gewissenhaften Anwalt war es immerhin keine Kleinigkeit, vom Lordkanzler von England persönlich zu hören: »Wir

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