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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ist eines guten Todes gestorben. Er hat am Ende all seine Werke bereut. Gottlos und lästerlich waren diese Geschichten. Er sagte, wir sollen sie alle verbrennen.«
    »Und das habt Ihr getan?« fragte Bull.
    »Diejenigen, die wir finden konnten«, erwiderte der Mönch.
    Bull fragte sich, ob sein Freund diesen Wunsch tatsächlich geäußert hatte. Aber wenn er über Chaucers riesiges Werk nachdachte, das bei seinem Tod noch nicht vollendet war und obendrein auch noch in Englisch abgefaßt war, schien es ihm relativ belanglos. »Es wird ohnehin alles verloren oder vergessen werden«, sagte er traurig. »Zumindest bin ich froh, daß er in der Abtei beigesetzt worden ist. Er war eine Zierde für England. Es freut mich, daß Ihr dies erkannt habt.«
    Doch der Mönch schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Ihr versteht da etwas falsch, Sir«, sagte er. »Er ist nur hier beigesetzt, weil er ja schließlich ein Bewohner der Abtei war.«
    Als Bull fünf Jahre später starb, ging Bocton an Tiffany über. Sie begab sich öfter als Ducket dorthin, obgleich auch er mit der Zeit großen Gefallen an Bulls uralter Familienwohnstätte fand. »Aber ich bin in London zu Hause«, sagte er. Und dort lebte er auch zufrieden und in Freuden. Er erlebte es, wie sein Freund Whittington Mayor wurde, wie dieser viele der Dinge erbauen ließ, die er sich vorgenommen hatte, einschließlich einer neuen Wasserversorgung. In seinem Testament sorgte der Mayor noch dafür, daß unweit der schmutzigen Gegend um St. Lawrence-Silversleeves öffentliche Bedürfnisanstalten errichtet wurden.
    Er sah zu, wie James Bulls Brauerei von ihren bescheidenen Anfängen im »George« zu einem riesigen Unternehmen heranwuchs, das Bier an die Truppen des nächsten Königs, Heinrich IV, lieferte, als diese in Agincourt kämpften. Er erlebte es, wie England in seinem alten Konflikt mit Frankreich wieder einmal den Sieg davontrug. Er erfreute sich daran, daß seine Kinder groß und reich wurden. Doch selbst im hohen Alter bereitete es ihm das größte Vergnügen, den Fluß zu beobachten, nicht nur abends, wenn er aus dem großen Wohnzimmerfenster blickte, sondern noch lieber am frühen Morgen, wenn er am Straßenrand auf der Southwark-Seite stand, unweit der Stelle, an der er vor langer Zeit als Säugling gefunden worden war. Von dort aus blickte er oft eine Stunde oder auch länger auf die Themse, wie sie majestätisch der aufgehenden Sonne zuströmte.

HAMPTON COURT
1533
    SIE HÄTTE NICHT in den Garten gehen sollen. Sie hätte vorbeigehen sollen, als sie das Geflüster hörte. Hatte ihr Bruder sie nicht vor solchen Dingen gewarnt? Ein schwüler Augustnachmittag; klarer blauer Himmel. Umgeben von einem Wildpark, einige Meilen flußaufwärts von London, lag der riesige, ziegelrote Tudorpalast Hampton Court in der warmen Sonne. Von den Grünflächen vor dem Palast konnte sie das ferne Lachen der Höflinge hören. Zwischen den Bäumen des Parks äste graziles Rotwild.
    Sie war ans Flußufer gegangen, weil sie allein sein wollte, und erst jetzt, als sie an der Hecke vorbeikam, hörte sie das Gewisper.
    Susan Bull war achtundzwanzig. Ihre regelmäßigen Züge paßten in ein Zeitalter, das blasse, ovale Gesichter bewunderte. Viele meinten, ihr Haar sei das Schönste an ihr. Wenn sie es nicht hochsteckte, umrahmte es glatt ihre Wangen und lockte sich ein wenig an den Schultern, doch vor allem an die Farbe erinnerte sich jeder – ein dunkles, sattes Braun mit warmen, kastanienroten Lichtern, die es strahlend schimmern ließen. Ihre Augen waren von derselben Farbe. Insgeheim war sie aber vor allem stolz darauf, daß sie nach der Geburt von vier Kindern immer noch ihre schlanke Figur hatte. Ihre Kleidung war einfach, aber elegant: eine gestärkte weiße Haube, unter der ihr Haar adrett zusammengebunden war, und ein hellbraunes Seidenkleid. Das einfache goldene Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, wies darauf hin, daß ihr Glaube ihr viel bedeutete, obwohl viele Damen bei Hof nach außen hin ähnliche Frömmigkeit bekundeten, weil es gerade Mode war.
    Sie hatte nicht hierherkommen wollen. Die Leute bei Hofe schienen ihr stets verschlagen, und sie verabscheute jegliche Falschheit. Aber sie hatte es für ihre Pflicht gehalten. Thomas hatte das alles eingefädelt.
    Thomas und Peter, ihre beiden Brüder; verblüffend, wie verschieden sie waren. Thomas, der Jüngste der Familie: begabt, brillant, charmant, eigenwillig. Sie liebte ihn, aber nicht ganz vorbehaltlos. Und Peter,

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