London
auflösen, so wie es während der Rosenkriege gewesen war?
Doch eine Möglichkeit gab es. War Katharina nicht, wenn auch nur kurz, die Frau seines älteren Bruders Arthur gewesen, den ein früher Tod hinweggerafft hatte? War Heinrichs Ehe also nicht verboten? Und dann lernte er Anna Boleyn kennen.
Die Boleyns waren eine Londoner Familie; Annas Großvater war Lord-Mayor gewesen. Zwei glänzende Eheschließungen hatten die frühere Kaufmannsfamilie mit dem Hochadel verbunden, und nach einem Aufenthalt am französischen Hof war Anna eine bestrickend elegante und geistreiche Person. Bald hatte Heinrich sich in sie verliebt und überlegte, ob diese bezaubernde junge Frau ihm einen gesunden Erben schenken würde. Sowohl sein Begehren als auch die Erfordernisse des Staates hatten ihn zu einer Entscheidung veranlaßt: »Auf meiner Ehe mit Katharina lag ein Fluch. Ich werde den Papst um die Annullierung bitten.«
Das war nicht so unerhört, wie es schien. Die Kirche war nicht ohne Erbarmen: Manchmal fand man Gründe, um Paare zu erlösen, die in einer unerträglichen Ehe gefangen waren. Auch der Laienstand manipulierte die Regeln: So heiratete etwa ein Aristokrat eine Cousine innerhalb des verbotenen Verwandtschaftsgrades und war sich damit sicher, daß die Ehe annulliert werden konnte; andere machten beim Ehegelübde absichtlich Fehler und hielten sich so ein Hintertürchen offen, damit die Ehe für ungültig erklärt werden konnte. Und der Papst hatte erkennbar den Wunsch, Englands getreuem König dabei zu helfen, eine geordnete Erbfolge aufzubauen.
Es war Pech, daß der Papst, gerade als Heinrich ihn um Hilfe bat, faktisch Gefangener eines anderen und noch mächtigeren katholischen Monarchen war: Karls V. Heiliger Römischer Kaiser Deutscher Nation und Oberhaupt der einflußreichen Habsburgerdynastie, dessen Tante keine andere war als Katharina. »Eine Annullierung würde Habsburg beleidigen«, erklärte er; und als Heinrichs Boten kamen, erhielt der Papst den Befehl, nein zu sagen.
Die folgenden Verhandlungen waren zum Teil eine Tragödie, zum Teil eine Farce. Heinrichs Minister, der große Kardinal Wolsey, scheiterte daran. Als Heinrich drängte, machte der Papst Ausflüchte. Diskret legte er nahe, Heinrich solle sich ohne seine Billigung scheiden lassen und erneut heiraten – in der Hoffnung, die Ehe könne später für gültig erklärt werden. »Das hätte keinen Sinn«, erklärte Heinrich. »Die Ehe und die Erben müssen unmißverständlich legitim sein.« Um dem Papst Angst einzujagen, befahl Heinrich der Kirche Englands, ihm die Gerichtshöfe zu unterstellen, und unterband ihre Steuerzahlungen an Rom. Doch der Pontifex maximus war immer noch hilflos in den eisernen Klauen der Habsburger gefangen.
Im Januar 1533 wurde die Zeit schließlich knapp: Anna war schwanger. Mit der Hilfe eines neuen Erzbischofs, Thomas Cranmer, der Heinrich recht gab, schritt der König zur Tat. Cranmer, allein auf die Autorität der englischen Kirche gestützt, annullierte die Ehe mit Katharina und traute den König und Anna Boleyn. Viele protestierten. Der alte Bischof von Rochester, John Fisher, weigerte sich, die Ehe zu sanktionieren. Thomas Morus, früherer Lordkanzler, schwieg mißbilligend. Eine religiöse Fanatikerin, die heilige Maid von Kent, prophezeite den Tod des gottlosen Königs und wurde wegen Hochverrats verhaftet. Der Papst, der Cranmer im Amt bestätigt hatte, zögerte zu erklären, ob er der neuen Eheschließung zustimmte oder nicht.
Was sollte ein frommes, gebildetes Ehepaar wie Rowland und Susan Bull davon halten? Ihr vorbildlicher katholischer König war vom Papst abgefallen. Sie verstanden die politischen Interessen, die im Spiel waren. Der Glaube als solcher war eigentlich nicht betroffen. »Am Ende wird es eine Lösung geben«, erklärte Rowland. Vor allem nach der wunderbaren Neuigkeit dieses Tages, dachte er, als er mit Thomas Meredith durch den Torbogen schritt. Die Astrologen hatten es vorhergesagt, und gerade an diesem Morgen hatten die Ärzte eindeutig erklärt, das ungeborene Kind sei ein Junge. England würde endlich einen Erben haben. So eilte Rowland Bull voller Glück im Herzen hinaus, um seine Frau zu suchen.
Der Garten schien sehr still zu sein, als Susan Bull ihn betrat. Sie war einige Schritte gegangen, als sie den Mann und die Frau sah. Sie waren rechts von ihr in einer Laube, und sie blickten sie an. Die Frau – eindeutig eine Hofdame. Ihr blaues Seidenkleid war bis über die Taille nach
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