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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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oben geschlagen; die weißen Strümpfe bis unter die Knie heruntergerollt. Ihre Beine umschlangen die Lenden eines großen Mannes, der sie festhielt. Der Mann war vollständig angezogen, nur die leuchtendfarbige Klappe seines Hosenbeutels war geöffnet. Ein praktischer Aspekt dieses Teils der Männertracht.
    König Heinrich VII. von England hatte das an diesem Nachmittag praktisch gefunden. Leider hatte er sich, als er so in flagranti ertappt wurde, automatisch zurückgezogen, so daß Susan Bull nun auf den König in seiner Nacktheit starrte. Und er starrte sie an. Sie war so bestürzt, daß sie sich nicht von der Stelle rührte. Die Frau, die von ihr erwartete, daß sie sich diskret entfernte, hatte ihre Stellung nicht verändert, ließ nun aber mit einem verärgerten Blick die Beine sinken, während König Heinrich sich ruhig zu ihr umwandte. Was sollte sie tun? Es schien zu spät, um einfach davonzulaufen. Sollte sie einen Knicks machen? Sie fühlte sich wie gelähmt. Und dann sprach König Heinrich.
    »Nun, Mistress. Heute hat Sie den König gesehen.«
    Sie begriff, daß dies der Augenblick war, um etwas Amüsantes zu sagen, damit die Sache auf elegante Weise abgetan war. Sie zermarterte sich das Hirn, doch ihr fiel nichts ein. Schlimmer: Gedankenlos hatte sie ihre Augen wandern lassen. Und während ihr Blick weiter nach unten glitt und sie sich an den Ruf des Königs als Liebhaber erinnerte, ertappte sie sich bei dem Gedanken: Er ist nicht anders als mein Mann. Tatsächlich eher kleiner. Und noch etwas bemerkte sie. Heinrichs Hemd war teilweise aufgegangen. Die prächtige Gestalt, an die sie sich erinnerte, als er sie als Kind hochgehoben hatte, war noch erkennbar, doch die Zeit war nicht spurlos an Heinrich vorübergegangen; die fünfundachtzig Zentimeter, die seine Taille während der Blüte seiner Jahre gehabt hatte, waren nun auf fast einen Meter vierzig angewachsen, und der dicke, haarige, überhängende Bauch, auf den sie einen Blick erhaschte, wirkte nicht sehr reizvoll. Sie blickte in sein Gesicht.
    Heinrich grinste. Diese Art von Blick kannte sie. Die meisten Fürsten hatten Mätressen; das war zu erwarten. Doch dies war etwas anderes. Nach all den Schwierigkeiten, dem Beiseiteschieben seiner treuen Gattin, dem Problem mit dem Papst, der Eheschließung mit Anna – und nun, da der entscheidende Erbe demnächst geboren werden würde und seine neue Königin wahrscheinlich keine hundert Meter entfernt war, frönte dieser übergewichtige König einer flüchtigen Leidenschaft, in einem Garten, wo jedermann ihn sehen konnte. Sein Blick war das gierige Grinsen eines Lüstlings. Der heroische, fromme König, den sie verehrt hatte, war plötzlich ein Schatten; sie erkannte, daß er nur vulgär war. Sie fühlte sich abgestoßen.
    Heinrich sah es. Gelassen befestigte er den Hosenbeutel, während die Dame mit geübter Schnelligkeit ihr Kleid in Ordnung brachte. Als Heinrich wieder aufsah, war das Grinsen verschwunden. Er starrte Susan an. »Wir kennen diese Dame nicht«, erklärte er und fügte laut hinzu: »Aber Wir mögen sie nicht!« Susan spürte, wie ihr kalt wurde.
    »Wie heißt Sie?«
    Hatte sie eben die Laufbahn ihres Mannes ruiniert, bevor sie überhaupt begonnen hatte? »Susan Bull, Sire.« Sie sah, wie er die Stirn runzelte. Er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, doch der Name Bull schien ihm nichts zu bedeuten. »Und Ihr Mädchenname?« fragte er.
    »Meredith, Sire.« Hatte sie ihren Bruder ebenfalls zugrunde gerichtet?
    »Thomas Meredith ist Ihr Bruder?« Sie nickte. »Ihr Vater war unser Freund. Ist Sie unsere Freundin?« Sie sank in einen tiefen Knicks. »Mein Leben lang war ich die Freundin Ihrer Majestät«, erwiderte sie. »Sorge Sie dafür, daß Sie es bleibt«, erklärte Heinrich und bedeutete ihr, daß sie sich zurückziehen solle. Doch dann beschloß er plötzlich, das Gespräch weiterzuführen. »Es war nicht recht, daß Sie uns auf eine solche Weise überrascht hat«, bemerkte er ernst. Es war ein milder, aber doch bestimmter Tadel. Susan wurde klar, daß der Vorfall im Gedächtnis des Königs von diesem Moment an als durch sie und keinesfalls durch ihn verschuldet gespeichert werden würde. Sie begann sich zu entfernen.
    Als sie gerade den Eingang des Gartens erreicht hatte, drehte sie sich um, und da sie ihn ihrer Untertanentreue versichern wollte, stieß sie hervor: »Ich habe nichts gesehen, Sire.« Im selben Augenblick, als sie das sagte, erkannte sie ihren Fehler. Mit ihren

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