London
Deptford ein wenig flußaufwärts.
Kein Monarch hatte mehr getan, um eine Flotte aufzubauen, als Heinrich VIII. von England. Mehrere Schiffe waren erwähnenswert, darunter die große, sechshundert Tonnen schwere Mary Rose. Der Stolz seiner Flotte war die Heinrich von Gottes Gnaden, das mächtigste englische Kriegsschiff, das je vom Stapel gelaufen war. Dieses gewaltige Gefährt löste sich nun gerade aus dem Mastenwald der Kaianlagen von Deptford und glitt in den Fluß.
Während der Viermaster sich zur Strommitte bewegte, stand Susan wie gebannt. Wie riesig er war. Great Harry nannten die Seeleute das gewaltige Schiff liebevoll. Und dann entfaltete die Great Harry plötzlich nicht die alltäglichen, sondern die zeremoniellen, goldbemalten Segel. Die Sonnenstrahlen tauchten Schiff und Takelage auf dem dunkel werdenden Fluß in ein rotgoldenes Licht, so daß es schimmernd wie ein Märchenschiff dahinglitt. Über eine Minute lang währte dieser Anblick, bis sich Wolken vor die Sonne schoben. Gerade als die Sonne verschwand, öffneten sich an der gesamten Längsseite des Schiffes zwei Klappenreihen, und aus diesen dunklen Hohlräumen ragten die Mündungen der Kanonen – das große Schiff verwandelte sich innerhalb eines Augenblicks von einem goldenen Traumgebilde in eine finstere, grausame Kriegsmaschine.
»Diese Kanonen könnten den Palast in Schutt und Asche legen«, bemerkte Thomas.
»Großartig«, stimmte Rowland zu.
Doch das Kriegsschiff erfüllte Susan mit Furcht. Es erinnerte sie an die andere Verwandlung, die sie im Sommer zuvor im Garten des Königs miterlebt hatte. Es kam ihr vor, als seien das goldene Traumschiff und das wuchtige Gefährt mit den bedrohlichen Kanonen die zwei Gesichter des Königs. Sie erschauderte, sagte sich jedoch, das komme nur von der nunmehr frischen Brise aus dem Osten.
Sie standen in einer Halle, deren dunkle Holzvertäfelung sanft im Kerzenlicht schimmerte, als der junge Mann zu Thomas trat. »Minister Cromwell braucht Euch«, murmelte er. »Es ist beschlossen. Wir sollen sofort einen Entwurf für das neue Gesetz verfassen.«
»Was für ein Gesetz?« fragte Susan. Der junge Mann lächelte. »Ab heute abend wird es ohnehin kein Geheimnis mehr sein«, meinte er, »also kann ich es Euch sagen. Es soll die Suprematsakte heißen. Thomas kennt sich besser aus, aber die wesentlichen Bestimmungen sind folgende.« Er begann zu erklären.
Zunächst war sich Susan nicht sicher, was der Zweck dieses neuen Gesetzes war. Es wiederholte anscheinend nur alles, was Heinrich während seiner Auseinandersetzung mit dem Papst bereits getan hatte – die Aneignung der Einkünfte von Rom, die Bestimmungen über die Thronfolge und vieles mehr.
Doch als der junge Mann weitersprach, riß sie die Augen vor Überraschung weit auf. Mit seinem neuen Titel als oberstes Haupt der Kirche beabsichtigte Heinrich nun nicht nur, alle Einkünfte zu beschlagnahmen, Bischöfe und sogar Äbte zu ernennen, sondern auch persönlich über jede Doktrin, jegliche Theologie und alle geistlichen Dinge zu entscheiden. Keinem mittelalterlichen König war dies bisher in den Sinn gekommen. Tatsächlich strebte er an, König, Papst und Kirchenkonzil in einer Person zu sein. Es war ungeheuerlich. Und indem er Cromwell zum Stellvertreter ernannte, verlieh er ihm die Aufsicht über die gesamte Kirchengemeinschaft – Priester, Abte und Bischöfe mußten sich für alles, was sie taten, beim Minister des Königs verantworten.
»Heinrich stellt sich Gott gleich!« protestierte Rowland. »Das bedeutet das Ende der Kirche, wie wir sie kennen.«
»Heinrich ist ein guter Katholik«, erwiderte Thomas verteidigend. »Er wird die Kirche vor Ketzerei schützen.«
»Und wenn der König seine Meinung ändert? Wenn er beschließt, die Form der Messe zu ändern? Wenn er plötzlich zum Lutheraner wird?«
»Es soll noch ein zweites Gesetz geben, wissen Sie«, fuhr der junge Mann fort. »Ein Gesetz wegen Hochverrats. Jeder, der Einwände gegen die Suprematsakte hat, soll des Verrats schuldig sein. Das bedeutet den Tod.«
Susan begann zu zittern. »Wir sind keine Verräter«, erklärte sie. »Wir werden dem Gesetz gehorchen, wenn es verabschiedet wird.« Rowland jedoch starrte zu Boden.
Susan wußte, wie Rowland sich fühlte, als das Suprematsgesetz im Parlament auf den Weg gebracht wurde. Sie fühlte mit ihm, wußte aber, daß sie es nicht zeigen durfte. Tatsächlich verteidigte sie den König sogar und ergriff gegen Rowlands kritische
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