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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Hofleute sind nicht alle so schlecht.«
    Sie genossen ihr Beisammensein so sehr, daß sie alle ein wenig angeheitert waren, als sie am Nachmittag schließlich beschlossen, auf dem Fluß nach Chelsea zurückzukehren.
    Zweifellos hatten die Tudors London ein schöneres Antlitz gegeben. Als sie an der Mündung des Fleet vorbeikamen, die nun dank verschiedener Eingriffe schmäler war, blickte Susan beifällig auf die neue Wasserresidenz des Königs bei Blackfriars, und am anderen Ufer des Fleet, das man über eine Brücke erreichte, auf den kleinen Palast Bridewell, der für bedeutende Gäste aus dem Ausland bestimmt war. Lächelnd betrachtete sie die Einfriedungen des Temple-Bezirks und die grünen Rasenflächen vor den einzelnen großen Gebäuden, die alle ihre eigenen Treppen hinunter zum Fluß hatten. Sicher, der alte Savoy-Palast hatte seine frühere Pracht verloren – er hatte sich nie mehr von den Zerstörungen durch Wat Tyler und seine Rebellen vor über einem Jahrhundert erholt und beherbergte nun nur noch ein bescheidenes Hospital für arme Leute. Aber als sie sich Westminster näherten, ragte ein weiterer riesiger Gebäudekomplex auf, der prächtige neue Palast, den König Heinrich Whitehall nannte.
    Als sie an Westminster vorbei waren und auf die Höhe des erzbischöflichen Lambeth-Palastes am gegenüberliegenden Ufer kamen, stupste Rowland sie an und deutete hinüber. An seinen Stufen hatte eine Prachtbarke angelegt, und die Passagiere schritten gerade durch das große, ziegelrote Pförtnerhaus zum Hauptgebäude.
    »Dort geht Cranmer«, sagte er, und Susan beobachtete neugierig, wie eine große, attraktive Gestalt aus dem Boot stieg. Doch rasch wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem erfaßt. Als die Männer der Besatzung eine Menge Gepäck ausluden, bemerkte sie, daß vier von ihnen eine große Kiste trugen, die fast wie ein Sarg aussah. »Glaubst du, daß jemand gestorben ist?« fragte sie.
    Thomas begann zu lachen. »Das ist Cranmers kleines Geheimnis«, murmelte er. Der Sarg wurde durch das Pförtnerhaus getragen. »Wenn du mir versprichst, nichts zu verraten«, meinte er vertraulich, »werde ich dir sagen, was in der Kiste ist. Mistress Cranmer. In der Kiste ist seine Frau.«
    Einen Augenblick lang verschlug es Susan die Sprache. Natürlich sündigten Priester, aber daß der Erzbischof eine Frau aushielt… »Cranmer hat eine Mätresse?« fragte sie.
    »Keine Mätresse. Sie ist seine rechtlich angetraute Ehefrau. Seine zweite. Sie wurden getraut, bevor er Erzbischof wurde.«
    »Aber weiß König Heinrich davon?«
    »Ja. Er billigt es nicht. Aber er mag Cranmer. Und er braucht ihn, um die Heirat mit Anna Boleyn zu legitimieren. Er hat Cranmer versprechen lassen, die Sache geheimzuhalten. Deshalb sieht man nie etwas von Mistress Cranmer. Wenn er reist, wird sie in einer Kiste transportiert.«
    »Sie muß ein loses Weib sein«, erklärte Susan voller Abscheu.
    »Keineswegs«, erwiderte Thomas. »Äußerst respektabel. Cranmer hat sie geheiratet, als er in Deutschland studierte. Ich glaube, ihr Vater ist Pastor.«
    »Deutschland?« Sie runzelte die Stirn. »Ein lutherischer Pastor? Willst du sagen, daß diese Frau, die mit unserem Erzbischof verheiratet ist, eine Lutherische ist? Und Cranmer? Ist er ein heimlicher Ketzer?«
    »Ein gemäßigter Reformator«, versicherte Thomas. »Nicht mehr.«
    »Und der König? Er steht doch nicht heimlich auf der Seite der Protestanten?«
    »Gütiger Himmel, nein!« rief Thomas.
    Das Gespräch hatte ihn ernüchtert. Er sah sogar ein wenig ängstlich aus.
    »Und du, Thomas? Was bist du?« fragte Susan.
    Er senkte den Blick und antwortete nicht.
    Bei Thomas, wie bei vielen anderen, hatte die Konvertierung in seiner Studentenzeit stattgefunden. Es war nicht ganz korrekt, den radikalen Wandel in seinen Überzeugungen als Konvertierung zu bezeichnen, da er nicht tatsächlich zu einem anderen Glauben übergetreten war. Es war ein schleichender Prozeß. Zuerst war es der Wunsch des Gelehrten, die Texte der Heiligen Schrift zu klären, zudem die Verachtung des Verstandesmenschen für Götzenanbetung und Aberglauben. Aber dahinter lag etwas weit Grundlegenderes und Gefährlicheres, und zumindest für Thomas konnte die Inspiration zu diesen anderen Ideen in einem Wort zusammengefaßt werden: Cambridge.
    Von den beiden Universitäten war Cambridge immer radikaler gewesen als das traditionalistische Oxford. Und als die Männer von Cambridge, angeregt durch den

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