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London

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Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Renaissancegelehrten Erasmus, ihren Blick auf den knarzenden alten Koloß der mittelalterlichen Kirche richteten, wurden selbst die heiligsten Doktrinen kritisch geprüft. Die zentrale Doktrin der Wandlung – das Meßwunder – wurde angegriffen. Thomas wußte natürlich, daß Wyclif und die Lollarden sie in Frage gestellt hatten. Nun leugneten häretische Protestanten in Europa sie ab. Aber als er einen geachteten Gelehrten in Cambridge hörte, war er erschüttert.
    »Gewährt Gott wirklich jedem Priester zu jeder Zeit ein Wunder?« hatte der Gelehrte gefragt. »Wie kann die Hostie zugleich Brot und der Leib Christi sein? All dies ist unnötige Spekulation. Mein Argument stützt sich auf das, was die Bibel tatsächlich sagt. Nur in einem der vier Evangelien gebietet Unser Herr seinen Aposteln, diesen Teil des Letzten Abendmahls zu wiederholen, und Er sagt lediglich: ›Tut dies zu meinem Gedächtnis.‹ Es ist eine Gedenkfeier. Warum haben wir dann ein Wunder erfunden?«
    Als Thomas Meredith Cambridge verließ, war er nicht länger ein gläubiger Katholik. Er gehörte zur großen Gruppe der Reformer. Obwohl Cambridge ihr intellektueller Stützpunkt war, gab es auch um den aufstrebenden Gelehrten Latimer in Oxford einen kleinen Kreis. Es gab fortschrittliche Kirchenmänner wie Cranmer, einige führende Londoner, adlige Sympathisanten am Hof, einschließlich einiger Verwandten Anna Boleyns, und sogar, wie Thomas festgestellt hatte, Minister Cromwell. Die Reformer waren die Elite. Die Mehrheit des englischen Volkes hing an den alten, vertrauten Bräuchen.
    »Ich bin nicht sicher, ob ich Lutheraner bin oder nicht«, hatte Thomas Cromwell vor kurzem gestanden, »aber ich will den Glauben grundlegend geläutert sehen.« Doch es gab einen einzigen Mann in England, der die Religion des Volkes ändern konnte: der König. Wie konnten die Reformer hoffen, den erklärten Verteidiger des Glaubens in ihr Lager zu ziehen?
    »Es ist eine Frage der Gelegenheit«, sagte Cromwell. »Wer hätte das Ergebnis der Boleyn-Affäre vorhersehen können? Doch für uns Reformer war es ein erstaunliches Geschenk, weil es den König veranlaßt hat, mit Rom zu brechen. Darauf können wir bauen.«
    »Der König mag zwar Cranmers Richtung tolerieren, weil er ihm sympathisch ist«, wandte Thomas ein, »doch er scheint Ketzer noch genauso zu verabscheuen wie früher.«
    »Geduld«, brummte Cromwell. »Er kann beeinflußt werden. Ihr wißt immer noch nichts über Fürsten. Wenn Ihr einen Fürsten beeinflussen wollt, junger Mann, vergeßt Argumente. Studiert den Mann. Heinrich liebt Macht, das ist seine Stärke. Er ist ungeheuer eitel und will als Held dastehen, das ist seine Schwäche. Und er braucht Geld, das ist sein Dilemma. Mit diesen drei Hebeln können wir Berge versetzen. Vielleicht sind wir sogar imstande, die Reformation des Glaubens nach England zu bringen.«
    Als Thomas in das besorgte Gesicht seiner Schwester sah, fragte er sich, was er sagen sollte. Er war ernüchtert genug, um zu begreifen, daß er bereits zuviel gesagt hatte. Irgendwie mußte er einen Rückzieher machen. »Ich bin kein Protestant«, versicherte er. »Noch ist das sonst irgend jemand am Hof. Du machst dir zu viele Sorgen.«
    Doch sie hatte seine Augen gesehen und wußte, daß er sie belog. Und obwohl sie nichts sagte, bereitete es ihr großen Schmerz zu wissen, daß sie ihrem Bruder nicht länger trauen konnte, was für zynische Intrigen auch immer am Hof ablaufen mochten.
    Obwohl erschüttert und enttäuscht, ließ Susan ihre Gedanken doch nicht von dieser Angelegenheit beherrschen. Da sie immer schon den großen Palast von Greenwich hatte sehen wollen, begleitete sie Thomas und Rowland, die an einem Herbsttag, als König Heinrich abwesend war, dort zu tun hatten. Sie genoß den Tag. Thomas führte sie durch den großen Palast an der Wasserfront. Er besorgte sogar ein Zimmer innerhalb des Palastes, in dem sie die Nacht verbringen konnten, bevor sie am nächsten Morgen nach Chelsea zurückkehrten.
    Kurz vor Sonnenaufgang stiegen sie zu dritt den breiten grünen Hang hinter dem Palast von Greenwich hinauf. Man hatte wahrhaftig eine wunderbare Aussicht. Im Westen lagen lange Streifen grauer Wolken mit glänzenden Rändern über dem Horizont. Unter ihr fingen die Türmchen des Palastes die ersten Sonnenstrahlen auf; links konnte Susan ganz London sehen, wie es ausgebreitet dalag, und das goldene Band der Themse. »Sieh nur!« rief Thomas und deutete auf die Werft von

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