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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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mit erschreckender Klarheit fest, daß sie nicht glücklich war, daß ihr Leben zu einem Gefängnis für sie geworden war.
    Trotzdem hätte sie vielleicht den Rest ihres Lebens so weitergemacht, wenn sie nicht Sextus begegnet wäre. Anfangs hatte sie seine Annäherungsversuche abgewehrt, doch sie kannte andere junge Frauen mit älteren Ehemännern, die sich heimlich Liebhaber nahmen. Als Sextus nicht lockerließ, begann sich etwas in ihr zu regen, und allmählich hatte der Gedanke immer klarere Formen angenommen. Warum sollte sie sich nicht auch einen Liebhaber nehmen?
    Dann war ihr Julius aufgefallen. Es war nicht nur sein jungenhaftes Aussehen, seine klaren blauen Augen und seine offensichtliche körperliche Kraft. Es war der leicht salzige Geruch an ihm, die Art, wie seine kräftigen jungen Schultern sich bei der Arbeit bewegten. Es überkam sie eine fast schmerzhafte Lust, sich von ihm besitzen zu lassen. Schlau hatte sie ihn an der Nase herumgeführt, sich erst an ihn herangemacht, dann so getan, als ziehe sie sich zurück, und wieder mit Sextus geflirtet. Dann erhielt sie seinen Brief. »Jetzt habe ich ihn«, hatte sie gemurmelt. Doch nun bekam sie es auch mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn sie ertappt würde? Der Kapitän würde zweifellos auf Rache sinnen. Wollte sie wirklich für diesen Jungen alles aufs Spiel setzen? Lange blickte sie über den Fluß und dachte nach, bevor sie schließlich zu einem Entschluß kam. Der Kapitän war weg. Sie hatte diese Schwermut satt. Morgen würde sie zur Brücke gehen.
    »Du bist dran!«
    Julius versuchte, sich auf das Brett vor ihm zu konzentrieren, und machte zögernd seinen Zug. Er war sicher nach Hause gelangt. Die Mutter und die Schwester bereiteten in der Küche ein Festmahl vor, zu dem sie morgen nach den Spielen die Nachbarn einladen wollten. Er und sein Vater saßen im Hauptraum des bescheidenen Hauses und spielten ihr abendliches Damespiel. Doch ständig fragte er sich, ob die Soldaten noch kommen würden. Mit seiner Schwester hatte er noch nicht reden können. Was hatte das dicke Mädchen gesehen?
    An der Küchenwand hing eine Entenbrust. Auf dem sauber geschrubbten Tisch lag ein Stück Rindfleisch, daneben stand eine Schüssel mit Austern aus dem Fluß und ein Eimer mit Schnecken, die morgen in Öl und Wein geschmort werden sollten. In einer flachen Schüssel reifte ein Weichkäse. Daneben standen Gewürze für die Sauce. Die Römer hatten den Speiseplan in Britannien erheblich bereichert: mit Fasan und Damwild, Feigen und Maulbeeren, Walnüssen und Maroni, Petersilie, Minze und Thymian, Zwiebeln, Rettichen und Rüben, Linsen und Kohl.
    Hatte seine Schwester die Soldaten gesehen? Wußte sie, was aus Sextus geworden war? Hatte sie es den Eltern erzählt? Julius nahm an, daß sie etwas wußte. Wann konnte er sie danach fragen? Die letzten zwei Stunden waren eine wahre Folter gewesen. Sobald er seinen Verfolgern ein Stück weit entkommen war, hatte er versucht, die Situation zu überdenken. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er und nicht Sextus den Argwohn der Soldaten erregt hatte. War sein Freund verhaftet worden? Hatte Sextus ihn beschuldigt? Am besten war es wohl, den nächsten Morgen abzuwarten und Sextus unterwegs abzupassen, der sicher auch zu den Spielen gehen würde. Aber wo sollte er inzwischen die Tasche verstecken? An einem sicheren Ort, wo er sie später leicht wieder an sich nehmen konnte. Er blickte um sich, fand jedoch keine geeignete Stelle.
    Dann lief er den Gipfel des westlichen Hügels ab, wo der kleine Dianatempel stand, und blickte auf einen der Brennöfen, die sich ebenfalls an dieser Stelle befanden. Daneben lag ein Haufen Müll, schlecht gebrannte Topfe und anderer Abfall, der offensichtlich schon eine Weile hier herumlag. Er schlich hinüber zu dem Haufen, versteckte die Tasche unter dem Abfall und entfernte sich rasch. Niemand hatte ihn gesehen. Er ging nach Hause.
    Aber als er nun von dem munteren Gesicht seines Vaters auf das Gesicht seiner Mutter blickte, verließ ihn seine Zuversicht. Rufus war immer fröhlich, er hatte ein rosiges Gesicht und stets ein Lied auf den Lippen; seine Frau dagegen war ganz anders. Ihr Haar, das weder blond noch grau war, trug sie immer in einem straff zusammengebundenen Knoten. Ihr Gesicht war leblos und fahl. Julius nahm zwar an, daß sie ihre Familie liebte, aber sie sprach kaum, und wenn ihr Mann einen Witz erzählte, lachte sie nie. Oft schien es, als trage sie die Last einer düsteren

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