London
Es war die Stadthalle – ein riesiger, aus einer Halle und Verwaltungsräumen bestehender Komplex, in dem sich der Stadtrat und die Richter trafen. Das langgezogene Hauptgebäude flößte ihr immer wieder Ehrfurcht ein. Daneben gab es noch vieles andere zu sehen in der Stadt: die Innenhöfe und die Brunnen in der Villa des Statthalters; die vielen öffentlichen Bäder, die Tempel und das große Amphitheater. Sie fand es aufregend, in einer solchen Metropole leben zu dürfen. »Rom wird als die ewige Stadt bezeichnet«, bemerkte der Kapitän, »und Londinium ist ein Teil von Rom.«
Die junge Frau merkte, was es hieß, Teil einer großen Kultur zu sein. Die klassische Kultur Griechenlands und Roms war führend in der Welt, von Afrika bis nach Britannien. Die öffentlichen Gebäude, Bögen und Giebel, Säulen und Kuppeln, Kolonnaden und Plätze strahlten ein zutiefst befriedigendes Gefühl von Raum und Ordnung aus. Die römischen Privathäuser mit ihren Fresken, Mosaiken und ausgeklügelten Zentralheizungen waren komfortabel und behaglich. Im friedlichen Schatten der Tempel traf sich die perfekte Geometrie aus Stein mit dem innersten Mysterium des Religiösen. Es waren Geschenke einer historischen Kultur, die die junge Frau instinktiv erkannte, auch wenn sie sie nicht in Worte hätte fassen können. Sie liebte die Stadt.
Oft segelte der Kapitän mit britischem Steingut nach Gallien und kam mit roten, mit Löwenköpfen geschmückten Schüsseln von der Insel Samos zurück, mit Zedernholzfässern voll Wein, mit großen Amphoren voll Olivenöl oder Datteln. Solche Dinge waren natürlich vor allem für die Haushalte der Reichen bestimmt, doch der Kapitän behielt immer einen Teil für sich, und so lebten sie sehr gut. Wenn er weg war, unternahm sie gerne einsame Spaziergänge. Sie ging zur Insel an der Furt, wo einst ein Druide gelebt hatte, oder aus dem oberen westlichen Tor hinaus zwei Meilen weit bis zu einer großen Straßenkreuzung, an der ein schöner Marmorbogen stand.
Oft flehte sie die Götter um ein Kind an. Nahe dem Gipfel des westlichen Hügels gab es eine römische Tempelanlage, doch die meisten Frauen gingen zu den zahllosen Schreinen der keltischen Muttergottheiten. Einen Schrein fand sie besonders trostspendend, ein Quellheiligtum einer keltischen Wassergöttin. Martina kam es vor, als erhöre sie diese Wassergöttin und sei freundlich zu ihr. Aber ein Kind ließ dennoch auf sich warten.
Bis zu einem bestimmten Tag in diesem Frühjahr war ihr gar nicht bewußt, daß sie unglücklich war. Das Haus, in dem sie mit ihrem Mann lebte, befand sich in der südlichen Erweiterung der Stadt. Es war ein angenehmer Fleck. Da die Holzbrücke auf ihren hohen Stützpfeilern weit über die Kieslandzunge, die vom Südufer in den Fluß hineinragte, ins Land hineinreichte, blieb sie auch dann trocken, wenn die Flut hereinkam und die Landzunge zu einer Insel machte. Die anschließende Straße am sumpfigen südlichen Flußufer war auf einem Fundament von dicken, kreuzweise angeordneten Baumstämmen errichtet, auf die man Erde und Schotter aufgeschüttet hatte. Martina war an diesem Tag über die Brücke gegangen und hatte über ihr Leben nachgedacht. Der Kapitän war immer sehr freundlich zu ihr. Sie wußte, daß sie sich nicht über ihn beklagen konnte. Am Ende der Brücke hatte sie sich nach rechts gewandt und war am Ufer Richtung Osten gegangen, vorbei an den Lagerhäusern und den Werften, bis sie schließlich zu der Stelle kam, an der die Stadtmauer auf den Fluß stieß.
Hier war es sehr ruhig. Am Rand der Mauer stand eine große Festung, die nicht mehr benutzt wurde. Darüber beschrieben die Ausläufer des östlichen Hügels einen Bogen bis zur Stadtmauer, so daß diese Stelle am Fluß wie ein natürliches Freilufttheater wirkte. Auf dem Hang spazierten die Raben umher, als warteten sie auf den Anfang einer Aufführung. Martina starrte auf die hohe Stadtmauer vor ihr. Blasser Kieselsandstein, der von Kent den Fluß heraufgeschifft wurde, war für die Außenseite der Mauer in akkurate Quader geschnitten worden. Die fast neun Fuß breite Basis war mit einer Stein- und Mörtelfüllung befestigt, zur weiteren Verstärkung hatte man in regelmäßigen Abständen Lagen roter Ziegel durch die gesamte Breite der Mauer eingefügt. Das Ergebnis war ein phantastisches Bauwerk, das etwa zwanzig Fuß hoch von dünnen roten Streifen durchzogen war, die horizontal auf der ganzen Länge der Mauer zu sehen waren.
Plötzlich stellte sie
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