London
keiner hatte mehr Macht als der Tempel von Mithras. Er lag zwischen den beiden Hügeln am Ostufer des kleinen Baches oberhalb des Statthalterpalastes. Es war ein solider, kleiner, rechteckiger Bau. An der Ostseite lag der Eingang; am Westende gab es eine kleine Apsis, in der sich das Heiligtum befand. Darin ähnelte der Tempel christlichen Kirchen, bei denen die Altäre damals auch am westlichen Ende lagen. Immer schon hatte es viele Religionen im Römischen Reich gegeben, doch in den letzten zwei Jahrhunderten erfreuten sich die geheimnisvollen Kulte und Religionen aus dem Osten zunehmender Beliebtheit, darunter vor allem das Christentum und der Mithraskult.
Mithras, der Stiertöter. Der persische Gott des himmlischen Lichts, der kosmische Kämpfer für Reinheit und Aufrichtigkeit. Julius wußte alles über diesen Kult. Mithras kämpfte um die Wahrheit und die Gerechtigkeit in einem Universum, in dem wie in vielen östlichen Religionen das Gute und das Böse gleich stark waren und in einem ewigen Streit lagen. Das Blut des legendären Stieres, den er getötet hatte, brachte der Erde Leben und Wohlstand. Der Geburtstag dieses östlichen Gottes wurde am 25. Dezember gefeiert.
Die Initiationsriten dieses mysteriösen Kultes wurden streng geheimgehalten, doch es ging auch sehr traditionell zu. Im Tempel wurden nach alter römischer Sitte kleine Blutopfer erbracht. Die Mithrasanhänger hielten sich an den alten Ehrenkodex der Stoiker und verpflichteten sich zu Reinheit, Ehrlichkeit und Tapferkeit. Die Mitgliedschaft in der Loge stand nicht jedem offen. Die Soldaten und Händler, bei denen der Kult am weitesten verbreitet war, sorgten für eine beschränkte Aufnahme. Nur etwa siebzig Männer durften den Tempel in Londinium betreten. Rufus hatte also allen Grund, auf seine Mitgliedschaft stolz zu sein.
Im Vergleich dazu waren die Christen ganz anders, auch wenn sich die Gemeinde rapide vergrößerte. Julius kannte ein paar Christen unten am Hafen, doch wie viele Römer hielt auch er sie für eine Art jüdischer Sekte. Außerdem war das Christentum mit seiner Betonung auf Demut und seiner Hoffnung auf ein glücklicheres Leben nach dem Tod eindeutig eine Religion für die Sklaven und die Armen.
Der Tempel bestand aus einem Hauptraum, zu beiden Seiten von Säulen gestützt, hinter denen sich seitliche Nischen befanden. Das eigentliche Zentrum war etwa fünfzig Fuß lang, jedoch nur zwölf Fuß breit; es hatte einen Holzfußboden, und in den Nischen standen Holzbänke. Rufus und Julius wurden zu einer im hinteren Teil gelegenen Nische geführt. Als weitere Männer hereinkamen und sich zu ihren Bänken begaben, merkte Julius, daß er immer wieder eingehend gemustert wurde. Am anderen Ende, vor der kleinen Apsis, stand zwischen zwei Säulen eine Statue des Mithras. Vor ihr befand sich ein bescheidener Steinaltar, auf dem die Opfer dargebracht wurden.
Langsam füllte sich der Tempel. Nachdem das letzte Mitglied der Loge hereingekommen war, wurden die Tore geschlossen und verriegelt. Dann saßen alle still. Einige Minuten verstrichen, bevor eine Fackel am hinteren Ende des Raumes aufflackerte und mit leisem Rascheln zwei Gestalten aus dem Schatten der Nischen heraustraten. Beide trugen Kopfbedeckungen, die ihre Gesichter völlig verhüllten. Der erste trug einen Löwenkopf, dessen Mähne ihm bis zu den Schultern reichte. Der zweite Mann war größer. Was dieser trug, war weit mehr als eine Kopfbedeckung, es reichte ihm fast bis zu den Knien und bestand aus Hunderten von Federn in der Form eines großen, schwarzen Vogels mit zusammengefalteten Flügeln und einem riesigen Schnabel. Es war der Rabe. »Ist er ein Priester?« fragte Julius flüsternd seinen Vater.
»Nein, ein ganz normales Mitglied. Aber heute abend leitet er die Zeremonie.«
Der Rabe schritt nun die Bänke ab. Immer wieder blieb er stehen und richtete eine Frage an eines der Mitglieder, was offensichtlich Teil des Ritus war.
Danach schritt er zum hinteren Teil des Tempels, in dem der Altar lag. Rufus beugte sich zu seinem Sohn hinüber und flüsterte: »Dies ist einer der Männer, die du heute abend kennenlernen wirst.«
Die restliche Zeremonie dauerte nicht sehr lange. Der Rabe murmelte ein paar Beschwörungsformeln, der Löwe verkündete ein paar Dinge zur Mitgliedschaft, dann war der offizielle Teil beendigt, und man trat in kleinen Gruppen zusammen, um sich miteinander zu unterhalten.
Julius und sein Vater hielten sich weiter im Hintergrund. Rufus sprach
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