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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Erinnerung mit sich herum.
    Keltische Erinnerungen reichten weit zurück. Es waren erst zweihundert Jahre vergangen, seit Königin Boudicca sich gegen die römischen Eroberer aufgelehnt hatte, und ihre Familie hatte zu Boudiccas Stamm gehört. »Mein Großvater kam unter der Herrschaft von Kaiser Hadrian zur Welt, der die Mauer erbaute«, sagte sie oft, »und sein Großvater wurde im Jahr des großen Aufstandes geboren. Er hat dabei Mutter und Vater verloren.« Sie hatte noch weit entfernte Cousins, die abgelegen auf dem Land lebten, ihre Felder noch wie ihre keltischen Vorfahren bebauten und kein Wort Latein sprachen. Es verging kaum ein Tag, an dem seine Mutter nicht eine düstere Warnung äußerte. »Diese Römer sind doch alle gleich. Am Ende zieht man immer den kürzeren.« Solche Aussprüche begleiteten Julius seit seiner Kindheit.
    Ein Klicken am Damebrett störte Julius bei seinen Gedanken. Eine Reihe von klappernden Geräuschen, dann ein triumphierender Faustschlag auf den Tisch.
    »Hab' ich dich mal wieder geschlagen!« Das rote Gesicht seines Vaters grinste ihn an. »Träumst du von Frauen?« Er sammelte die Spielsteine ein, stand auf und verschwand im Schlafzimmer.
    Julius wußte, daß er versuchen mußte, die Ereignisse dieses Tages zu verdrängen, doch es fiel ihm schwer. Vor allem die Tasche machte ihm Sorgen. Den ganzen Abend lang war sie ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Zuerst hatte er soviel Angst gehabt, daß die Soldaten noch kommen könnten, daß er froh war, daß die Tasche in ihrem Versteck lag. Doch nun wurde er allmählich zuversichtlicher. Zumindest diese Nacht würde er wahrscheinlich sicher sein. Wenn nur die Tasche nicht wäre! Natürlich war sie gut versteckt. Aber wenn man nun zufällig beschließen würde, den Müll zu beseitigen? Oder wenn ein Streuner die Münzen entdecken und sie stehlen würde?
    Also faßte er einen Entschluß. Er schlüpfte leise aus dem Haus und eilte rasch durch die Straßen hoch zu den Brennöfen. Es war nicht weit. Leute waren noch unterwegs, doch der Müllhaufen lag im Dunkeln. Erst dachte er schon, die Tasche sei nicht mehr da, doch schließlich fand er sie und verbarg sie unter seinem Umhang. Dann eilte er wieder heim und ging in sein Zimmer. Er versteckte die Tasche unter seinem Bett neben zwei Schachteln mit allem möglichen Krimskrams. Dort würde sie bis zum Morgen in Sicherheit sein.
    Die Nacht war sternenklar, als Julius und sein Vater durch die Stadt zu ihrem Treffen gingen. Da ihr Haus in der Nähe des unteren der beiden westlichen Stadttore lag, nahmen sie die große Durchgangsstraße, die von diesem Tor aus am westlichen Hügel entlang und dann hinunter zu dem Bächlein zwischen den Hügeln führte.
    Es kam nicht oft vor, daß Julius seinen Vater nervös erlebte, doch heute abend war er es wohl. »Es wird schon klappen«, murmelte Rufus mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn. »Verhalte dich am besten ruhig. Sag nichts, beobachte das Ganze nur.« Sie überquerten die Brücke. Vor ihnen lag der Palast des Statthalters. Dann sahen sie endlich ihr Ziel im Dunkeln vor sich liegen: ein alleinstehendes Gebäude, dessen Eingangstür zu beiden Seiten von einer brennenden Fackel erleuchtet war. Julius hörte, wie sein Vater einen zufriedenen Zischlaut ausstieß.
    Es gab zwei Dinge, auf die Rufus immens stolz war. Das eine war die Tatsache, daß er ein römischer Bürger war. Civus Romanus sum: Ich bin ein römischer Bürger. In den Anfangszeiten der römischen Herrschaft wurde nur wenigen Einheimischen der Inselprovinz die Ehre einer vollen Staatsbürgerschaft gewährt. Doch dann ließen die Restriktionen nach, und Rufus' Großvater, der nur ein Kelte aus der Provinz war, hatte es geschafft, den begehrten Status zu erhalten, indem er in einem Hilfsregiment diente. Er heiratete eine Frau aus Italien, so daß Rufus nun behaupten konnte, daß römisches Blut in seinen Adern floß. Als Rufus noch klein war, hatte Kaiser Caracalla dann die Tore geöffnet und die Staatsbürgerschaft fast allen freien Bürgern im Reich gewährt, so daß Rufus sich eigentlich durch nichts von den bescheidenen Händlern unterschied, unter denen er lebte, aber er sagte seinem Sohn immer wieder voller Stolz: »Wir waren schon früher Staatsbürger als die anderen!«
    Doch auf etwas ganz anderes war er noch viel stolzer, und dies lag hinter dem Eingang mit dem flackernden Licht: Rufus war ein Mitglied der Tempelloge.
    Zwar gab es viele – auch größere – Tempel in Londinium, doch

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