London
sie vertrauen. Aber das war vor fünf Jahren gewesen, vor dem großen Umschwung, der England an die Schwelle der jetzigen schrecklichen Krise gebracht hatte. Und als sie nun liebevoll auf die schlafende Gestalt neben sich blickte, hörte sie Meredith' drängende Worte, erst vor ein paar Tagen geäußert: »Ihr werdet bald in Gefahr sein. Wer genau weiß Bescheid?« – »Du. Vielleicht argwöhnen die Leute etwas. Aber warum ist das so wichtig?«
»Du verstehst nicht. Sag mir eines – weiß Gideon Bescheid?«
Gideon nahm seinen Federkiel. Der Brief an Martha lag vor ihm, aber zum hundertsten Male zögerte er. Er blickte durch das Zimmer auf seine Familie. Seine Frau nähte, neben ihr saßen Patience, die bald heiraten würde, und Perseverance, die immer noch keinen Verehrer hatte. Und der Lichtschimmer seines Lebens, O Be Joyful, mittlerweile ein kleiner, untersetzter Jugendlicher, der in der Bibel las. Der Junge war so begabt, daß Gideon ihn nicht in das eigene Geschäft genommen hatte, sondern ihn zu dem besten Holzschnitzer in die Lehre gegeben hatte, den er finden konnte. Aber noch dankbarer als für seine Begabung war Gideon dafür, daß Gott seinem Sohn ein so sanftes, frommes Wesen gegeben hatte. Wie stolz wäre Martha, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Dieser Gedanke brachte ihn zurück zu dem Brief und der quälenden Frage: Sollte er Martha von Dogget und Jane schreiben?
Er hatte gesehen, wie sie sich küßten, wenn sie sich allein glaubten, und er hatte Dogget in ihrem Haus verschwinden sehen. Soweit er sagen konnte, war es nur wenigen anderen bekannt. Als ein Nachbar einmal bemerkt hatte: »Dogget und Mrs. Wheeler sind Vetter und Base, nicht wahr?«, hatte er genickt. Gott vergebe ihm die Lüge. Dabei sollte er, Gideon Carpenter, im Kirchspiel von St. Lawrence-Silversleeves das moralische Vorbild sein.
Denn das war nun seine Rolle, seit sie Sir Julius Ducket und seine Freunde hinausgeworfen hatten. Dreimal hatte ihn die gesamte Gemeinde als Mitglied der Kirchspielversammlung gewählt, und ihre moralischen Maßstäbe waren hoch. Mehr als die Hälfte der Männer trugen Wams und Hut der Puritaner; ihre Frauen trugen graue oder braune lange Kleider und Häubchen, die unter dem Kinn gebunden waren.
Warum also ließ er zu, daß der Betrug an der frommen Frau, die er verehrte, fortgesetzt wurde? Zum Teil war es Angst vor einem Familienstreit und einem möglichen Skandal. Aber noch wichtiger war ihm, daß Dogget glücklich blieb. Ohne den alten Mann, der in der Werkstatt arbeitete, hätte Gideon sich nicht frei gefühlt, der größeren Sache zu dienen, deren Werk am nächsten Morgen vollendet werden sollte: das Werk Cromwells und seiner »Heiligen«.
Oliver Cromwell hatte den Bürgerkrieg gewonnen. Nach den ersten ergebnislosen Jahren hatte Cromwell seine eigene, gut ausgebildete berittene Truppe aufgebaut, die Ironsides. »Laßt mich nun die ganze Armee reorganisieren«, hatte er vom Parlament gefordert.
Was waren das für aufregende Zeiten gewesen. Gideon hatte Dogget und seine Familie in London gelassen und sich voll Eifer Cromwells Streitmacht angeschlossen. Die Armee nach neuem Modell wurde sie genannt. Diese ausgebildete, disziplinierte Vollzeitarmee, deren Kern bereits kampferprobt war, befehligt von Cromwell und General Fairfax, hatte Karl I. und Rupert bei Neaseby eine vernichtende Niederlage bereitet und eine königliche Festung nach der anderen erobert. Oxford fiel. Karl I. ergab sich den Schotten. Diese lieferten ihn gegen Geld an die Engländer aus, die ihn unter Hausarrest stellten.
Für Gideon war wichtig, daß diese Rundköpfe nach neuem Modell nicht nur Soldaten waren, sondern »Heilige«, wie sie sich selbst nannten. Manche waren natürlich nur Söldner; doch die meisten waren Männer, die nach Gerechtigkeit strebten, Streiter für Christus, Männer, die dafür kämpften, daß sie nun endlich in England die leuchtende Stadt auf dem Hügel errichten konnten. Sie waren sicher, daß Gott mit ihnen war; dieses Wissen verlieh ihnen Autorität, und die wurde gebraucht. Denn wem könnten sie vertrauen, wenn nicht sich selbst?
Sicher nicht dem Parlament. Die Hälfte der Zeit hatte die Armee ihren Sold nicht bekommen. Die »Heiligen« wußten sehr gut, daß die meisten Mitglieder des Parlaments zu den geringstmöglichen Bedingungen ein Abkommen mit dem König treffen wollten. Der größte Teil der Bevölkerung unterstützte die Sache der Rundköpfe, aber man konnte nie wissen, wie viele
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