London
diesem Sommer ein großer Erdwall mit Graben, elf Meilen lang, fertiggestellt, der die gesamte Stadt umschloß, alle Randbezirke zu beiden Seiten des Flusses, bis hinter Westminster und Lambeth im Westen und Wapping im Osten. Und nicht nur die Vorstädte, sondern auch offenes Gelände, Gärten und Felder, selbst das Speicherbecken für die von Myddelton gebaute Wasserversorgung – alles befand sich hinter der riesigen Einfriedung. Die Wälle hatten Eingänge, Festungswerke und Batterien von Kanonen, die von der Ostindiengesellschaft zur Verfügung gestellt wurden. Sie waren uneinnehmbar. Und hier hatte die Parlamentsopposition während des Krieges ihr Hauptquartier.
Der Konflikt verlief langsam und stockend – ein Gefecht hier, eine Stadt oder ein befestigtes Haus dort, die man belagerte, ein paar offene Schlachten. Dabei hatten sich König Karl und Prinz Rupert als gefährlich erwiesen, als sie vom königlichen Hauptquartier in Oxford vorrückten. Sie hatten den großen Hafen Newcastle im Norden, aus dem der größte Teil der Kohleversorgung Londons kam, für den König gewonnen, zudem große Gebiete im Westen. Selbst nachdem die schottischen Presbyterianer dabei geholfen hatten, ihnen bei Marston Moor eine schwere Niederlage beizubringen, war die Botschaft eingetroffen: »Die Royalisten sind noch auf dem Feld.« Ein Teil der Schwierigkeit lag bei den Truppen der Rundköpfe. Die ausgebildeten Abteilungen aus London waren in der Regel überlegen, doch sobald der Sold nicht rechtzeitig ausbezahlt wurde, machten sie sich davon.
Anderen Landesteilen brachte der Krieg gelegentliche Kampfhandlungen, doch für Jane – innerhalb der riesigen Einfriedung um London – brachte er nur eine große Stille. Gewiß, bevor Gideon aufgebrochen war, hatte sie ihn und seine Männer einmal pro Woche stolz zum Finsbury Field oder zur Artilleriestellung außerhalb Moorgates ziehen sehen, wo sich die ausgebildeten Truppen der Stadt sammelten. Manchmal marschierten große Kolonnen von Rundköpfen aus der Stadt und kamen ein paar Wochen später zurück, schmutzig und mit Verbänden, doch die meiste Zeit blieb das Leben der Stadt sehr gedämpft. Die Hälfte der Stände auf dem Markt in Cheapside waren verschwunden. Die Londoner Warenbörse war oft wie ausgestorben. Da der Handel mit Tuch aus dem West Country von den Royalisten abgeschnitten worden war und kaum ein Markt für Luxusimporte bestand, verhielten sich die meisten Kaufleute abwartend. Sir Julius Ducket sei völlig zugrunde gerichtet, hieß es. Zu essen gab es zwar genug, doch die einfachen Leute hatten ein paar elend kalte Monate durchstehen müssen, als die Royalisten die Kohleversorgung aus Newcastle abgeschnitten hatten; und die monatlich eingezogenen Steuern für die Truppen hatten ihr Einkommen sehr geschmälert. Doch der angedrohte Angriff kam nie. Das Leben mochte zwar hart sein, aber zumindest hatte Jane Dogget.
Warum war er nicht nach Massachusetts gegangen? Immer hatte es eine Ausrede gegeben. In den ersten ein oder zwei Jahren war es das Geschäft, dann waren zwei von Gideons Kindern krank geworden. Als dann der Bürgerkrieg begann und Gideon Soldat wurde, mußte Dogget erst recht die Werkstatt weiterführen und für Gideons Familie sorgen.
Es geschah an einem sonnigen Nachmittag im September, Monate nachdem der Wall fertig war. Dogget und Jane waren aus der Altstadt zu den Moorfields spaziert. Fast eine Meile entfernt konnte sie die Wachtposten auf dem Wall bei Shoreditch sehen, und sie dachte, innerhalb dieser großen Einfriedung sei es, als lebten sie an einem unwirklichen, zeitlosen Ort, der sich irgendwie von der übrigen Welt losgelöst hatte. Als habe Dogget ihren Gedanken erfaßt, wandte er sich ihr plötzlich halb zu und bemerkte: »Man fühlt sich jung hier draußen.« Ja, dachte sie, sie fühlte sich jung. »Du hast dich jedenfalls nicht sehr verändert«, meinte sie. Sein Haar war grau, und sein Gesicht hatte Falten, aber ansonsten war er derselbe. Lächelnd sah er sie an. Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Beide schwiegen, während sie zusammen zum Haus zurückgingen. Und so hatte in diesem seltsamen, stillen Raum, den die Kriegswälle geschaffen hatten, ihre Affäre begonnen: zwei Liebende über sechzig, verbunden durch ihre Vergangenheit und lange Zuneigung, die zusammen Trost, Gemeinschaft und sogar Erregung fanden; beide ein wenig erstaunt, daß so etwas noch möglich war.
Sie waren diskret. Nur Meredith hatte es erraten, und ihm konnte
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