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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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geraten. Während der langen finsteren Jahrhunderte bis zu den modernen Stuarts und frühen Hannoveranern waren die Straßen kaum mehr als prähistorische Wege und zerfurchte angelsächsische Fahrspuren gewesen. Die alte Straße durch Kent von Dover und Canterbury war in Gebrauch geblieben, aber der frühere Schotterbelag war so tief vergraben, daß selbst sie nicht mehr als ein Karrenweg war.
    All das hatte sich nun verändert. Die Mautstraßen des achtzehnten Jahrhunderts gehörten privaten Kartellen und Kapitalgesellschaften und sollten Profit einbringen. Dies taten sie mit solchem Erfolg, daß sie innerhalb einer Generation den größten Teil des Landes überzogen. Manchmal folgten sie einer geraden römischen Route, öfter einem kurvigen angelsächsischen Pfad. Ihre Oberflächen waren eben und hart genug, daß eine Kutsche ein schnelles, konstantes Tempo beibehalten konnte. Reisen, die früher ein oder zwei Tage gedauert hatten, brachte man nun in ein paar Stunden hinter sich. Unternehmer mit einem Park schneller Kutschen transportierten Post und Leute von den Londoner Postgaststätten in die entferntesten Teile des Landes. Plötzlich war die immer mehr wachsende Hauptstadt für jede andere Stadt des Königreichs erreichbar. Es war sowohl die Rückkehr Roms als auch der Beginn des modernen Zeitalters.
    Der Anblick, der nun vor Eugene lag, war ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte. Die Metropole London war unter der Herrschaft Georgs III. weiter gewachsen, vor allem nördlich der Themse; Southwark am Südufer hatte sich nur bescheiden ausgedehnt. Trotz Häuserreihen entlang den Straßen zur Westminster Bridge bestand das große Kirchspiel Lambeth, westlich von Southwark, immer noch hauptsächlich aus Obst- und Gemüsegärten und ein paar vereinzelten Holzlagerplätzen am Ufer. In den alten Dörfern Battersea und Clapham weiter flußaufwärts waren ein paar schöne Villen und Gärten hinzugekommen, die wohlhabenden Kaufleuten und Gentlemen gehörten. Schmutzige Backsteinhäuser standen in den Ufergegenden von Bermondsey und Rotherhite unterhalb Southwarks, danach kam bald offenes Marschland. Noch weiter flußabwärts war das Dorf Greenwich mit seinen großen weißen Palästen nahezu unverändert. Daß sich die mächtige Stadt auf der anderen Themseseite wie ein ungestümer Koloß ausbreitete, konnte Eugene im Augenblick allerdings nicht sehen. »Das ist der Londoner Nebel«, erklärte der Kutscher.
    Er lag über der Stadt wie eine dunkelgraue Dunstglocke. Als sie nach Southwark kamen, war der Himmel dunkel, und die Häuser lagen in einem öligen, grünlichen Dampf, den ihre Laternen nur mit einem leisen orangefarbenen Schimmer durchdrangen; und als sie die High Street erreichten, konnte Eugene nicht einmal mehr die Köpfe der Leitpferde sehen.
    Penny hatte von seinem Vater die Anweisung bekommen, sobald er in London angekommen sei, solle er sofort zu seinem Paten Jeremy Fleming gehen. Da der Nebel dies im Augenblick unmöglich machte, beschloß Eugene, die Nacht über im »George Inn« zu bleiben. Er war dennoch guter Dinge. Diese Unannehmlichkeit würde den Beginn seines neuen Lebens nur um ein paar Stunden verzögern. Eugene wußte nicht, daß der Nebel über London ein fester Bestandteil des neuen Lebens war, das er suchte. Denn kaum hatte England das Niveau seiner römischen Vergangenheit wieder erreicht, zeichnete sich bereits der große Aufschwung ab, den man die industrielle Revolution nennt.
    Oft wird angenommen, die industrielle Revolution Englands habe aus riesigen Fabriken bestanden, in denen eine Armee von Unterdrückten arbeitete; und im Norden und in den Midlands gab es auch solche große Eisenschmieden, dampfgetriebene Baumwollspinnereien und Kohlebergwerke, in denen Kinder unter Tage arbeiteten. Aber die führende Kraft der industriellen Revolution in England war der traditionelle Handel mit wollenem Tuch, gefolgt von billiger Baumwolle aus Manufakturen. Obwohl mechanische Spinn- und Webmaschinen einen enormen Aufschwung ermöglichten, waren diese Manufakturen zumeist kleine Ausbeuterbetriebe. Sie alle benutzten Kohle; und aus den Kaminen der Stadt drang so viel Rauch und Ruß, daß die dunklen Dämpfe bei entsprechender Wetterlage wie eine Decke über London lagen und die unteren Dämpfe am Entweichen hinderten; wenn dann noch Nebel aufkam, entstand dieser erstickende, undurchdringliche Horror, in dem die Menschen ihre Gesichter verhüllen mußten – der berüchtigte Londoner Smog, die

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