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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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aus ihr herauszubringen. »Es hat etwas mit dem Jungen zu tun, nicht wahr?« fragte er. »Soll ich ihn suchen?«
    »Nein! Auf keinen Fall!« rief sie.
    Was immer sie so erschreckt hatte, sie wollte nicht darüber reden. Später sprach sie von anderen Dingen – von der Feier am nächsten Tag, von ihrer Abreise auf den Kontinent –, doch blaß und geistesabwesend. Etwas quälte sie, aber sie wollte es nicht einmal mit ihm teilen.
    Und dann kam die dunkle, stille Nacht. War es der Schock? War es der geheime Tribut, den die letzten drei Wochen ihr abverlangt hatten, als sie so kalt mit Leben und Tod gespielt hatte? Oder hatte ihr Herz begonnen, sich zu öffnen und weicher zu werden, da sie nun selbst Liebe gefunden hatte? Es war nicht nur Schuldgefühl, das sie im Schlaf quälte, sondern Schmerz, Sehnsucht und überwältigender Mutterinstinkt, der sie in den frühen Morgenstunden immer wieder im Schlaf aufschreien ließ: »Das Kind. O mein Gott. Mein verlorenes Kind.«
    Als sie aufwachte, saß Meredith auf einem Stuhl neben dem Bett. Sanft nahm er ihre Hand und fragte: »Was hast du mit dem Kind gemacht? Leugne nicht. Du hast im Schlaf geredet.«
    »Ich habe es fortgegeben«, gestand sie. »Aber das ist so lange her. Jetzt kann man nichts mehr tun.«
    »War es von St. James?«
    Sie nickte. »Unser Sohn. Wir werden auch einen Sohn haben; er wird den Besitz erben. Der andere war… du hast es ja selbst gesehen. Er war… seine Hände…«
    Aber nun wußte Jack Meredith, was er zu tun hatte.
    »Ich habe den Vater umgebracht«, erklärte er. »Aber verdammt will ich sein, wenn ich das Kind enterbe. Wenn du das Kind nicht zurücknimmst, verlasse ich dich.«
    »Du wirst es ohnehin nicht finden«, meinte sie.
    Aber er brauchte nicht lange dazu. Obwohl die beiden Jungen nach dem Desaster des vergangenen Tages beschlossen hatten, den Hanover Square zu meiden, mußte Meredith nur in den Grosvenor Square einbiegen, und schon sah er einen rußigen Bengel mit Besen, der nach einem Blick auf ihn davonrannte. Der kleine Kerl rannte die Audley Street hinunter, aber Meredith war schnell und hatte ihn bald erwischt.
    »Bring mich zu deinem Vater«, befahl er, und so gingen sie zusammen in die Richtung von Seven Dials.
    Sie fanden den Händler beim Blumenmarkt von Covent Garden. Er stand neben seinem Karren. »Was ist los?« fragte er, als er Meredith und den Jungen kommen sah.
    »Ihr Junge hat gestern in einem Haus gestohlen«, antwortete der Captain. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich will wissen, wie Sie zu diesem Jungen gekommen sind. Ist er als Ihr Sohn geboren?«
    »Glaube schon.« Dogget sah argwöhnisch drein. »Und wer sind Sie wohl, Sir, daß Sie so was fragen?«
    »Ich bin Captain Meredith«, erwiderte Jack, »und ich habe Grund zu glauben, daß dieser Junge von einem Dienstmädchen fortgegeben worden ist, das man aus einem gewissen Haus entlassen hat. Das ist alles, was ich im Augenblick sagen kann.«
    Harry Dogget wurde sehr nachdenklich. »Ich bin der Vater des Jungen, seit er ein winziger Kerl war. Hab ihm ein gutes Zuhause gegeben. Ich kann ihn nich einfach irgendwohin mitgehn lassen.«
    »Dann schauen Sie mich an«, sagte der Captain.
    »Na gut, Sie sehn schon aus wie 'n richtiger Gentleman«, stimmte Dogget zu. Dann erzählte er Meredith, wie er das Baby bei Seven Dials gefunden hatte.
    »Dann ist es zweifellos das vermißte Kind, wegen seiner Hände und seines Haars. Bemerkenswert.« – »Ja«, pflichtete der Händler ihm bei, das waren sie. Und so ließ Harry Dogget seinen Karren bei einem anderen Händler zurück, begleitete Meredith und den Jungen zum Hanover Square und pfiff, als er das Haus sah. »Und Sie sagen, da soll er wohnen, nich als Dienstbote, sondern als einer von der Familie?« Als Meredith bejahte, schüttelte er verblüfft den Kopf. Er lehnte Meredith' Angebot hineinzukommen ab, sondern fragte: »Kann ich ihn morgen noch mal besuchen kommen? Bloß damit ich seh, ob's ihm gutgeht.« O ja, er konnte und sollte kommen.
    So kam George, früher Lord Bocton und nun Earl von St. James, zurück in sein Zuhause.
    Für Isaac Fleming brachte die Morgendämmerung ein Gefühl hoffnungslosen Versagens. Es ging um vierzig Pfund. Ob er sie bekam oder nicht, hing von dieser einen Torte ab. Er dachte an ein Schloß, ein Schiff, sogar an einen Löwen, aber nach kurzer Zeit schien ihm das alles abgedroschen, kaum bemerkenswert. »Ich sollte es aufgeben«, meinte er jämmerlich zu seiner Frau. Aber er

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