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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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und Highgate. Innerhalb dieses Bereichs lebten nun an die sechzigtausend Menschen, regiert von der Kirchspielversammlung. Es gab zwei Arten von Kirchspielen. In den einen wurde die Versammlung zumindest von einem Teil der Haushaltsvorstände gewählt; »offene« Kirchspiele nannte man sie. In den anderen – eine Minderheit, aber eine bedeutende – ernannte sich die Versammlung, deren Zusammensetzung vom Parlament festgelegt wurde, selbst, ohne irgendeine Beteiligung der Kirchspielangehörigen; das waren die »geschlossenen« Kirchspiele. In diesem Jahr 1819 war das große Kirchspiel St. Pancras, das offen gewesen war, dank einer mächtigen Adelsclique vom Parlament in ein geschlossenes verwandelt worden.
    »Das ist eine Ungerechtigkeit!« donnerte Carpenter.
    Zachary Carpenter war eine bekannte Gestalt. Er war Möbeltischler, und zwar ein guter. Er war Lehrling bei der Firma Chippendale gewesen, hatte kurze Zeit als Geselle für Sheraton gearbeitet und sich dann mit der Herstellung zierlicher Schreibsekretäre, die man Davenports nannte, selbständig gemacht. Wie viele Kunsttischler arbeitete er im Kirchspiel von St. Pancras, wo er eine Werkstatt mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen hatte; und wie viele Handwerker und Kleinunternehmer war er ein leidenschaftlicher Radikaler.
    Er war achtzehn, als die Französische Revolution begann, einundzwanzig, als Thomas Paines Streitschrift Die Rechte des Menschen mit der Forderung »ein Mann, eine Stimme« veröffentlicht wurde. Innerhalb einer Woche hatte er sie gelesen und sich der Londoner Corresponding Society angeschlossen, deren Abhandlungen und Zusammenkünfte bald ein Forum für Radikale in ganz England bildeten. Mit fünfundzwanzig begann er sich einen Ruf als Redner zu erwerben. »Und ist dieses Kirchspiel nicht ein Beispiel für die große Ungerechtigkeit in jedem Wahlkreis in Britannien«, rief er aus, »wo freie Männer kein Stimmrecht haben und die Parlamentsmitglieder nicht vom Volk, sondern von einem Grüppchen von Adligen gewählt werden? Es ist Zeit, dieser Schande ein Ende zu machen. Es ist Zeit, daß das Volk regiert.« Nach dieser Anstiftung zur Revolution trat er unter heftigem Beifall zurück ins Haus.
    Seltsam war, daß diese Szene am Fitzroy Square stattfand, einer der vornehmsten, im Südwesten gelegenen Gegenden des Kirchspiels. Noch seltsamer war, daß neben Carpenter der Eigentümer des Hauses stand und die ganze Zeit zustimmend nickte – ausgerechnet dieser Inbegriff eines Aristokraten, der Earl of St. James persönlich.
    Siebzig Jahre war es nun her, daß Sam ein Earl geworden war. Während seine Kindheit verging, hatte er seine frühen Jahre in Seven Dials allmählich vergessen. Sein Stiefvater Meredith hatte ihm so oft gesagt, er sei gerettet worden und nehme wieder den Rang ein, der ihm zukomme, daß er es schließlich glaubte. Als junger Mann dachte er nicht mehr an Sep. Der Earl of St. James war zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren. Nun amüsierte er sich damit, seinen radikalen Freund Carpenter zu unterstützen. Als die beiden in den Raum zurücktraten, warteten zwei Männer auf sie. Lord St. James verzog ärgerlich das Gesicht.
    »Was zum Teufel machst du hier, Bocton?« fragte er scharf.
    Obwohl an der Vaterschaft nicht der leiseste Zweifel bestand, hätte man nie geglaubt, daß der Earl und Lord Bocton Vater und Sohn waren. Zwar hatte Bocton wie sein Vater eine weiße Strähne im dunklen Haar, doch er war groß und mager wie die Familienangehörigen seiner Mutter. Anders als sein Vater war er altmodisch gekleidet, nicht in den nun gängigen engen langen Hosen, sondern in einer Kniehose mit Seidenstrümpfen. Stets trug er einen dunkelgrünen Rock, was seinen Vater oft zu der Bemerkung veranlaßte: »Du siehst aus wie eine Flasche.«
    Der Earl nickte dem Begleiter seines Sohnes zu. »Wer ist das?«
    »Ein Freund, Vater«, begann Lord Bocton.
    »Habe gar nicht gewußt, daß du welche hast«, schnaubte der Earl. »Wie hat dir die Rede gefallen?« Er wußte sehr gut, daß sie Lord Bocton überhaupt nicht gefallen hatte. »Bocton ist ein Tory, wissen Sie«, erklärte er Carpenter.
    Unter der Herrschaft Georgs III. gab es drei politische Richtungen. Die Tories, die Partei der Gutsherren und des Klerus, waren für König und Vaterland. Da ihr Einkommen in der Regel aus eher kleinem Grundbesitz stammte, waren sie protektionistisch gesinnt und verteidigten die Getreidezölle, die den Getreidepreis künstlich hochhielten. Jeder Art von

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