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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Waschküche.
    Im warmen Lichtschein der größten Gaststube des »George Inn« konnte Eugene den Nebel vergessen. Der Wirt brachte ihm eine Steak-Kidney-Pie und eine Flasche Porter, wie das dunkle Bier oft genannt wurde. Neugierig betrachtete Eugene die Gesichter um sich herum. Da es eine Postgaststätte war, sah man hier alle Arten von Reisenden – Kutscher in ihren dicken Mänteln, Kaufleute, zwei Anwälte, einen Geistlichen, kleine Ladeninhaber.
    Gegen neun Uhr kam eine seltsame Gestalt herein, bestellte sich einen Krug Porter und setzte sich allein in eine Ecke der Gaststube. Einen Augenblick lang verstummten die Gespräche. Er war klein, aber sehr kräftig gebaut und bewegte sich mit mürrischer Schwerfälligkeit. Sein dicker Rock war von unbestimmbarer Farbe, auf dem Kopf trug er einen formlosen schwarzen Hut, dessen Krempe seine buschigen schwarzen Brauen berührte. Unter den großen, unfreundlichen Augen lagen dunkle Ringe, und insgesamt machte er einen bedrohlichen Eindruck.
    Ob aufgrund seiner fahlen Hautfarbe oder der seltsamen Hand mit den feinen Schwimmhäuten, die den Krug hielt – Eugene kam es vor, als sei die Erscheinung aus dem dunklen Fluß selbst aufgetaucht.
    »Wer ist das?« fragte er den Wirt.
    »Der?« erwiderte der Mann mit einem Blick voller Abscheu. »Er heißt Silas Dogget.«
    »Was macht er?« erkundigte sich Penny weiter.
    »Das brauchen Sie nicht zu wissen«, erklärte der andere und sagte nichts weiter.
    Es sah aus, als würde sich ein Aufstand bilden. In der Morgendämmerung hatte der Wind den Nebel fortgeblasen; nur ein kleiner Rest von Ruß war noch übrig. Etwa vierhundert Menschen hatten sich vor dem schönen Haus am Fitzroy Square versammelt, um die schockierende Botschaft zu hören.
    »Glauben wir«, rief der Mann aus dem Fenster im Obergeschoß, »an die Brüderlichkeit der Menschen?« Die Menge bestätigte das mit einem Aufschrei. »Erkennt ihr an, frage ich, erkennt ihr an, daß jeder Mensch Rechte hat? Gibt es nicht die Menschenrechte? Und schließen diese unveräußerlichen Rechte nicht auch dies ein« – die nächsten Worte stieß er hervor wie einen Trommelwirbel: »No taxation without re-present-a-tion? Keine Besteuerung ohne Vertretung?« Zachary Carpenters kleine, untersetzte Gestalt und sein runder Kopf hüpften förmlich auf und ab.
    Es mag seltsam erscheinen, daß diese Worte, direkt aus der Feder Thomas Paines, des großen Propagandisten der amerikanischen Revolution, auf einer Straße in London proklamiert wurden. Aber Engländer im Mittelalter hatten zur Zeit der Aufstände Wat Tylers dasselbe gesagt, und viele Zeitgenossen hatten Großväter, die sich noch an die Levellers aus dem großen englischen Bürgerkrieg erinnern konnten. Das freie House of Commons, die Puritaner, die Rundköpfe, die nun unabhängigen Amerikaner und die radikalen Engländer waren alle demselben alten Drang nach Freiheit entsprungen. König Georg III. mochte wütend sein, weil die Amerikaner sich von der Krone losgesagt hatten, aber viele seiner einfachen Untertanen hatten Paine gelesen und empfanden Sympathie für die mutigen Kolonisten.
    »Tausche ich mich«, fragte Zachary nun die Menge, »oder hat das Parlament die Sklaverei abgeschafft?«
    Die Menge versicherte ihm, daß er recht hatte. 1772 war in England die Sklaverei abgeschafft worden, und dank Reformern wie William Wilberforce war der Sklavenhandel seit kurzem selbst in Großbritanniens weit entfernten Besitzungen in Übersee verboten.
    »Warum werden wir dann hier, im Kirchspiel von St. Pancras, nicht besser als Sklaven behandelt?« rief Carpenter. »Warum werden freie Männer von einer Tyrannei niedergetreten?«
    Carpenters Anklage war vollkommen berechtigt. Die alte Kontroverse darüber, wer die Kirchspielversammlung kontrollieren solle, war immer noch nicht entschieden. Das alte Gebiet der fünfundzwanzig Stadtbezirke wurde immer noch vom Mayor, von den Aldermen und den nun eher dekorativen Gilden regiert, die immer größer werdende Metropole hatte jedoch keine zentrale Verwaltung. Es waren die Kirchspiele, die für Ordnung sorgten, die Straßen pflasterten und für die Armen und Kranken aufkamen. Und daher erhoben die Kirchspiele auch Steuern.
    St. Pancras war ein sehr großes Kirchspiel. Seine Grenze verlief von Holborn aus über eine Meile westwärts; von dieser Linie aus erstreckte es sich über städtische Straßen, Vorstädte, offene Felder und Dörfer vier Meilen nach Norden hinauf bis zu den Hügeln von Hampstead

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