London
Reform standen sie mißtrauisch gegenüber. Der starrsinnige Georg III. ob geistesgestört oder nicht, war ihnen gerade recht.
Die Whigs wollten den König unter der Fuchtel des Parlaments halten. Als Partei von Wirtschaft und Handel, immer noch angeführt von hohen Aristokraten, deren Reichtum oft Beteiligungen an Handel und Bergbau einschloß, traten sie für Freihandel und gemäßigte Reformen ein. Es war in ihren Augen absurd, daß eine Handvoll Wähler aus einem Bezirk ein Mitglied ins Parlament entsenden konnte, während manche wachsenden Industriestädte überhaupt keine Vertretung hatten. Die Whigs standen auch den Nonkonformisten, den Juden und zum Teil sogar den Katholiken, die unter der alten Test-Akte immer noch keine öffentlichen Ämter ausüben konnten, wohlwollend gegenüber.
Und es gab noch eine dritte politische Gruppe – einige radikale Whigs, die sich vehement für Reformen, Toleranz und Redefreiheit aussprachen. Ihr Anführer war Charles James Fox – leichtlebig und verschuldet, aber ein großer Redner, wie selbst seine Gegner einräumten. Wenn Fox sich im House of Commons ereiferte, wußte er, daß er im House of Lords stets auf die Stimme des Earl of St. James zählen konnte, während er in Lord Bocton einen jüngeren, aber unversöhnlichen Feind hatte.
»Da Sie fragen, Vater«, antwortete Bocton nun, »ich halte die Rede für unklug. Wir sollten das Volk nicht aufwiegeln.«
»Fürchten Sie eine Revolution, Mylord?« erkundigte sich Zachary.
»Natürlich.«
»Und Sie fürchten sich vor dem Volk?« fuhr der Radikale fort.
»Das sollten wir alle, Mr. Carpenter«, entgegnete Bocton. »Meine unmittelbare Befürchtung ist, daß Sie und mein Vater dabei sind, einen Aufruhr zu provozieren.«
Es gab guten Grund zu dieser Befürchtung. Das Ende der Napoleonischen Kriege vier Jahre zuvor mochte Europa Frieden gebracht haben, aber sicher nicht Ruhe und Ordnung im eigenen Land. Eine große Zahl zurückgekehrter Soldaten war immer noch ohne Arbeit; die Textilindustrie mußte sich darauf einstellen, daß sie keine Großaufträge mehr für Uniformen bekam; die Getreidepreise waren hoch. Natürlich gab man der Regierung die Schuld, und viele glaubten den Radikalen, die ihnen sagten, daß all ihre Probleme von einer korrupten Aristokratenclique, die das Land regierte, verursacht wurden. Es hatte vereinzelte Aufstände gegeben; die Regierung war beunruhigt. Erst vor ein paar Wochen waren bei einer Versammlung in Manchester berittene Soldaten in die Menge gestürmt, mehr als ein Dutzend Menschen wurden getötet. Der Vorfall ging als Massaker von Peterloo in die Geschichte ein, und seither war jede öffentliche Versammlung spannungsgeladen.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas in Ihrem Haus zulassen können, Vater«, beschwerte sich Lord Bocton.
»In Wirklichkeit meint mein Sohn«, erklärte St. James Carpenter, »daß in diesem Haus keine Radikalen wären, wenn es ihm gehörte. Und er versteht vor allem nicht, daß ich immer noch hier bin – er meint, ich hätte nun schon zu lange gelebt. Nach meinem Tod bekommt nämlich er das Geld.«
»Ich denke nicht an das Geld, Vater.«
»Schon gut. Geld ist dazu da, um es zu genießen, und vielleicht gebe ich noch alles aus. Wußtest du, Bocton, daß ich nächstes Jahr ein neues Haus bauen lasse? Am Regent's Park.«
Während der Phasen, in denen König Georg III. geistesgestört war, regierte sein Erbe als Prinzregent. Die letzte Phase dauerte so lange, daß sie als Epoche der Regency in die Geschichte einging, und im Stil des von dem Regenten favorisierten Architekten Nash wollte nun auch der Earl ein neues Domizil.
»Sie haben nicht nur einen Sohn, sondern auch einen Enkel zu berücksichtigen«, warf Lord Bocton ihm vor. Bei der Erwähnung seines Enkels blickte der Earl milder. Der junge George war etwas anderes. »Sind Sie überdies nicht ein wenig zu alt, um sich mit einem solchen Umzug zu belasten?« fuhr Lord Bocton fort.
»Keineswegs«, erwiderte sein Vater freundlich. »Ich werde hundert Jahre alt. Du wirst dann schon über siebzig sein.« Er sah aus dem Fenster. »Kein Aufstand«, bemerkte er. »Du kannst nach Hause gehen.«
Draußen wandte sich Lord Bocton an seinen Begleiter. »Was meinen Sie, Mr. Silversleeves?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ein interessanter Fall, Mylord. Vermindertes Verantwortungsgefühl; Größenwahn – glaubt, er wird hundert Jahre alt – ; Geschäftsunfähigkeit – will sein ganzes Geld verschwenden. Und seine
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