London
Stellung bei den Mittelschichten zu stärken.«
Als die Versammelten aus dem Saal strömten, war Carpenter erstaunt, ausgerechnet die flaschengrün gewandete Gestalt Lord Boctons auf sich zukommen zu sehen. »Mr. Carpenter, ich stimme jedem Ihrer Worte zu!« erklärte dieser unnachgiebige Tory. »Sie und ich, Mr. Carpenter, stehen uns vielleicht näher, als Sie glauben. Ich komme tatsächlich zu Ihnen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Ich kandidiere fürs Parlament, und ich trete für eine Wahlrechtsreform ein.«
Das System politischer Vertretung, über das Carpenter sich ereiferte, war wirklich schwerlich zu verteidigen. Große Industriestädte stellten kein Parlamentsmitglied; viele ländliche Sitze standen unter dem Patronat von Großgrundbesitzern, und der größte Skandal waren die durch einen einzigen Grundbesitzer vertretenen Wahlkreise, die pocket boroughs – oft auch rotten boroughs, korrupte Wahlkreise, genannt –, wo eine Handvoll vom Grundherrn abhängiger oder käuflicher Wähler das Recht hatte, ein Mitglied zu entsenden. Manche Radikale traten sogar für geheime Wahlen ein.
»Das kommt mir als ein feiges, hinterhältiges Verfahren vor, das kein ehrbarer Mann unterstützen sollte«, gestand Bocton. »Aber vielleicht können Sie mich umstimmen, Mr. Carpenter. Sind Sie wirklich der Überzeugung, daß jedermann – der Geselle, den Sie wegen Trunkenheit entlassen müssen, der Lehrling, sogar der Bettler im Armenhaus – dasselbe Recht haben sollte wie Sie, die Führer des Landes zu wählen?«
Genau wie er sich gedacht hatte, zögerte Carpenter. Diese Frage hatte die Reformbewegung seit Jahren beschäftigt. Die Puristen glaubten, alle Männer, gleich welchen Standes, sollten Stimmrecht haben. Vor zehn Jahren hätte Carpenter noch zugestimmt, aber je älter er wurde, desto mehr Zweifel kamen ihm. Waren zum Beispiel seine zwanzig Angestellten wirklich reif für eine so große Verantwortung? »Die Männer, die Steuern zahlen, sollen das Stimmrecht haben.« Solide Bürger wie er.
»Genau«, pflichtete Lord Bocton ihm bei. Daß Frauen auch wählen sollten, war keinem von ihnen je in den Sinn gekommen. »Mein Titel«, fuhr Bocton fort, »als Erbe des Earls of St. James ist nur ein Höflichkeitstitel. Im House of Lords sitzt mein Vater, aber ich könnte ins House of Commons gewählt werden.« Viele politisch interessierte Adlige schlugen diesen Weg ein. »Bei den nächsten Wahlen möchte ich für den Sitz von St. Pancras kandidieren. Zwar bin ich ein Tory, aber ich werde für eine Reform stimmen, und ich möchte, daß Sie mich unterstützen.«
»Aber warum wollen Sie für eine Reform eintreten?«
Der Grund, warum Bocton und eine Reihe anderer Tories plötzlich auf Reformkurs umgeschwenkt waren, hing mit den irischen Katholiken zusammen. Im vergangenen Jahr war bei einer unerwarteten Nachwahl ein prominenter irischer Katholik ins britische Parlament gewählt worden. Nach den bestehenden Vorschriften konnte er seinen Sitz aufgrund seiner Religion eigentlich nicht einnehmen. »Aber wenn wir die Entscheidung nicht akzeptieren, revoltieren die Iren womöglich«, hatte Wellington bedauernd erklärt. »Die Regierung des Königs muß weitergeführt werden.« Nach beträchtlicher Druckausübung hatte die Regierung tatsächlich ein Gesetz verabschiedet, das Katholiken dieselben Rechte zugestand wie den Nonkonformisten. Politisch war das ein gefährlicher Kurs.
Im Frühjahr 1829 fanden sich solide Tories in den Grafschaften an der Seite methodistischer Ladeninhaber. »England ist protestantisch«, erklärten sie. »Wenn die Regierung und ihre käuflichen Wähler den Katholiken nachgeben, wovor werden sie dann als nächstes zurückweichen?«
»Tatsächlich«, gestand Bocton mit entwaffnender Offenheit, »fragen sich manche von uns sogar, ob wir nicht mit Parlamentariern, die von soliden Männern aus der Mittelschicht gewählt werden, besser dran wären als mit diesen käuflichen Wählern ohne Prinzipien. Vielleicht ist eine vernünftige Reform besser als Chaos.«
Beide Männer hatten ein gemeinsames Interesse, und so trafen sie ein Abkommen. Eines irritierte Carpenter jedoch ein wenig. »Bedeutet das, Mylord, daß Ihr Vater nun mit Ihnen zufrieden ist?« wagte er zu fragen, nachdem er mit seinem früheren Feind zu einer Einigung gekommen war.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bocton. »Glauben Sie, mein Vater würde Ihnen in der Frage des Buckingham-Palastes zustimmen?«
»Ich nehme es an.«
»Tut er aber nicht. Er
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