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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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er sich noch einmal über den Bootsrand und starrte auf das Gesicht der Leiche, die knapp unter der Wasseroberfläche schwamm. »Das ist er. Zehn Pfund bringt er uns«, bemerkte er. Diese Belohnung war für die Entdeckung des Leichnams eines gewissen Mr. Tobias Jones ausgesetzt, der vor einer Woche verschwunden war. Da solche Leichname zudem oft Wertgegenstände in der Tasche hatten, war es für Silas und Lucy eine feine Sache, eine Leiche zu finden. Silas war ein Müllmann des Flusses – ein Abfallfischer, wie man sagte. Die Abfallfischer nahmen alles. Kisten oder Fässer, die von einem Schiff gefallen waren, Rundhölzer, Körbe, Flaschen – und natürlich Leichen. Diese sich auf dem Wasser bewegenden Aasgeier hatten etwas an sich, das die meisten Menschen veranlaßte, sie zu meiden. Dabei konnten die besten, wie Silas, gut davon leben. Lucy war nicht sicher, warum er sie als seine Gehilfin gewählt hatte. »Immerhin bist du mit mir verwandt«, sagte er. Das Geld, das er ihr zahlte, hatte die Familie vor dem Armenhaus bewahrt. Das Asthma der Mutter hatte seinen Tribut gefordert, so daß sie nicht mehr arbeiten konnte. Als ihnen schließlich nur noch fünf Shilling pro Woche blieben, hatte Lucys Mutter schwach zugestimmt: »Dann geh eben zu Silas.«
    Wenn Lucy arbeiten ging, half der kleine Horatio im Haushalt. Mit sieben Jahren war er immer noch ein blasser, magerer kleiner Kerl. Seine Beine waren dünn wie Stecken, aber er gab nicht auf. Jeden Tag, wenn Lucy zurückkam, wartete er mit dem Teekessel und einer Mahlzeit auf sie. Manchmal, wenn es warm war und es ihrer Mutter gutging, begleitete Horatio Lucy an den Fluß, setzte sich bei einem der Bootshäuser in die Sonne oder spazierte bei Ebbe auf den Schlammbänken herum, wo immer ein paar Kinder auf der Suche nach etwas Brauchbarem waren. Oft zeigte er Lucy einen kleinen Schatz, den er gefunden hatte.
    Jeden Abend, wenn sie ihn im Arm hielt, versprach er: »Irgendwann mal bin ich stark. Dann bleibst du daheim, und ich arbeite für uns alle.«
    Nun tauschte Lucy den Platz mit Silas, und er ruderte mit kräftigen Schlägen auf den Tower zu. Als sie auf der Höhe des Turms der All-Hallows-Kirche waren, erklärte Silas schroff: »Hab deinen Bruder nicht zu sehr lieb. Er wird sterben.«
    Als Zachary Carpenter sich zu seiner Rede erhob, hätte niemand in dem stillen Saal von St. Pancras vermutet, daß er innerlich überzeugt war, seine Zeit zu verschwenden. Ein halbes Leben lang hatte er für Reformen geworben und nichts erreicht. Dennoch wandte er sich mit seiner üblichen Redegewandtheit an die Versammelten. »Erkennt Ihr nicht, daß diese Nation von Blutsaugern ausgelaugt wird? Was sind der König, das Parlament und ihre vielen Freunde? Sie fressen Eure Steuern auf. Wollt Ihr einen Beweis für die Verderbtheit dieses Königreichs? Geht zur Mall und sagt mir, was Ihr seht. Ihr seht einen Skandal, meine Freunde.« Er sprach vom Bau des Buckingham-Palastes.
    Keine der vielen Peinlichkeiten, die der Prinzregent, der nun König war, dem englischen Staat zugemutet hatte – nicht einmal seine Schulden oder seine Gattin, die sich überall herumtrieb –, konnte es mit dem Skandal des BuckinghamPalastes aufnehmen. Ursprünglich war es der Sitz eines Aristokraten; die königliche Familie kaufte ihn, und Georg IV. beschloß, ihn zu einem neuen Palast ausbauen zu lassen. Der Architekt Nash, sein Freund, wurde damit beauftragt. Das Parlament genehmigte sehr unwillig zweihunderttausend Pfund, die bald ausgegeben waren. Die Radikalen protestierten, und sogar der loyale Herzog von Wellington bekam einen Wutanfall. Der König aber machte fröhlich weiter. Mittlerweile war die schwindelerregende Summe von siebenhunderttausend Pfand ausgegeben worden. Daher mußte Carpenter seinem Publikum nur vor Augen halten, daß solche Ausschweifungen weitergehen würden, bis es zu einer Reform kam, und seine Sache war bewiesen. Doch hatte er damit etwas gewonnen? Nichts änderte sich. Seit letztem Jahr war der Getreueste der Tories, der Herzog von Wellington, Premierminister. Gut, er hatte die Getreidezölle etwas modifiziert, um den Armen zu helfen, aber nicht genug, um den Grundbesitzern weh zu tun. Der Herzog hatte auch die Test-Akte aufgehoben, so daß Methodisten und Nonkonformisten wie Carpenter nicht länger von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen waren. Aber Carpenter ließ sich davon nicht täuschen. »Wellington ist General«, meinte er. »Das ist ein taktischer Zug, um seine

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