London
Abstimmung im House of Commons in der Geschichte des modernen England fand am 23. März 1831 statt. Das Gesetz zu einer großen Wahlrechtsreform, vorgelegt von der neuen Whig-Regierung, war nach mehreren stürmischen Sitzungen durchgegangen. Etwa hundert Sitze sollten gestrichen und die gesamte politische Struktur drastisch umgestaltet werden. Die historische Maßnahme, die in England die moderne Demokratie einführte, kam mit einer Stimme Mehrheit durch.
Wenige Tage später wurde jedoch ein Abänderungsantrag verabschiedet, nach dem von der Reform nicht mehr viel übrig war. »Jetzt werden die Whigs aufs Land gehen«, meinte Bocton, »und sie werden gewinnen.« Lord Grey, der Premierminister der Whigs, setzte prompt Neuwahlen an, und die Whigs wurden tatsächlich mit großer Mehrheit gewählt. Eine Reform war nun unvermeidlich.
Eine kleine Begebenheit verwirrte Carpenter. Zu Beginn des neuen Wahlkampfs war er zu einer Versammlung mit Bocton gegangen. Als er ihn in einem überfüllten Saal neben der Westminster Hall fand, fragte er vollkommen unbefangen: »Ich sehe, daß nun auch Ihr Sohn George kandidiert. Für einen Pocket borough.«
Bocton sah ihn erstaunt an. »Wirklich?« Als er den alten St. James erblickte, sprach er ihn an. »Wußten Sie, Vater, daß George für einen Rotten borough kandidiert?«
»Natürlich, Bocton. Ich habe ihn für ihn gekauft.«
»Das haben Sie mir nicht gesagt. Aber ich freue mich darauf, mit ihm die Abstimmungshalle zu betreten. Vater und Sohn«, meinte Bocton trocken.
Daß ein Mann für einen Rotten borough kandidierte, sagte noch nicht, daß er das Wahlsystem unterstützte. Es gab eine ganze Reihe von Whigs, die über Rotten boroughs ins Parlament gekommen und somit eigentlich verpflichtet waren, für die Abschaffung ihrer eigenen Sitze zu stimmen.
»Wirklich?« Der alte Earl zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie er stimmen wird.«
»Er wird wie Sie und ich für eine Reform stimmen, Mylord«, schmeichelte Carpenter dem brummigen alten Mann. »Deshalb haben Sie ihm ja den Wahlkreis gekauft.«
Der alte Earl starrte ihn nur an.
Erstickender Septembernebel, dicht und graubraun, lag über dem Fluß. Waren sie gegenüber von Blackfriars, unten am Tower oder im Gebiet von Wapping? Als Lucy Silas fragte, brummte er nur.
Lucy ließ ihre Gedanken schweifen. An Weihnachten hatten Horatio und sie ein köstliches Festmahl für ihre Mutter bereitet. Im Januar dann hatte Horatio angefangen, Schleim zu husten, und in der ersten Februarwoche wurde er so von Fieber gequält, daß Lucy sich fragte, wie lange sein schwacher Körper das aushalten konnte. Zwei Monate lang mußte er, eingehüllt in Tücher, zu Hause sitzen. Manchmal versuchte die Mutter, seine Infektion mit heißen Umschlägen zu lindern, und er dankte ihr mit Tränen in den Augen. Erst im Mai wurde es etwas besser, aber er blieb den ganzen Sommer über schwach; und bei der nun beginnenden Septemberkühle und dem Nebel zitterte Lucy davor, daß die Krankheit wieder ausbrechen könnte.
Silas lehnte sich nachdenklich auf die Ruder. Sie wechselten selten mehr als ein paar Worte, aber als sie nun so allein im Nebel saßen, beschloß Silas, etwas umgänglicher zu sein. »Du hast Mumm. Hier draußen im Nebel unterwegs, und ohne daß du dich je beklagst.«
Ermutigt durch diese ungewöhnliche Wendung des Gesprächs, wagte sie eine Frage: »Woher weißt du, wie man etwas finden kann, Silas? Sogar in diesem Nebel?«
»Weiß ich nicht«, gestand er. »Hab's immer gekonnt.«
»Warst du als Kind schon auf dem Fluß?« Er nickte. »Und dein Vater?«
»Fährmann. Die ganze Familie war auf dem Fluß, bloß meine Schwester nicht. Sie hat's gehaßt.«
Lucys Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte eine Schwester. »Sie ist dann also nicht geblieben?« fragte sie weiter.
»Sarah? Nein. Hat einen Kutscher in Clapham geheiratet. Sie haben da einen Laden aufgemacht. Jetzt sind sie schon lange tot, alle beide. Auch keine Kinder da.«
Aber sie wußte, daß er log.
Im Oktober 1831 hatte Zachary Carpenter zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl, daß mit der Welt alles in Ordnung war. Die Septembernebel hatten sich verzogen; das Wetter war schön. Vor zwei Wochen war der Reformantrag der Whigs wie erwartet im House of Commons verabschiedet worden; Lord Bocton und sein Sohn hatten zusammen abgestimmt. Nun würde der König unterzeichnen, und die Reform war Gesetz. Noch erfreuter war er über die Erklärung des Parlaments, es sei
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