London
konnte. Doch sobald er die Sprache wiedergefunden hatte, mußte er die Lage erklären. »Ich fürchte trotzdem, daß es zu spät ist… Wir haben noch zweitausend Pfund. Ungefähr tausend Pfund pro Stunde werden abgehoben. Mittags ist es vorbei. Ich kann nicht einfach bis zum späten Nachmittag, wenn St. James kommt, die Türen zumachen. Wir müssen mindestens vier Stunden überbrücken, Penny.«
Eugene hatte eine glänzende Idee. »Sie haben noch zweitausend? Bringen Sie das Geld sofort zur Bank von England! In einem Handkarren«, rief er.
Eine halbe Stunde später wandte sich ein ganz gelassener Meredith an die kleine Menschenansammlung im Kontor, die darauf wartete, ausgezahlt zu werden. »Gentlemen, wir bitten um Entschuldigung. Wir haben bei der Bank um Sovereigns gebeten, und man hat uns nur Kleingeld geschickt. Aber wir haben genug. Sie bekommen alle Ihr Geld. Nur ein wenig Geduld, bitte.«
Die beiden Angestellten am Schalter begannen langsam mit den Auszahlungen – in Shillings, Sixpences, aber vor allem in Pennies. Da die kleinen Münzen sorgfältig abgezählt werden mußten, gingen nicht mehr als dreihundert Pfund pro Stunde hinaus, wenn auch der Strom nicht abriß. Kurz vor Geschäftsschluß kam der Earl mit zehntausend Pfund in Gold.
Die große Bankenkrise von 1825 endete nicht an diesem Dienstag; am Mittwoch wurde es für viele noch schlimmer. Am Donnerstag gab die Bank von England, im Kabinett vom Herzog von Wellington persönlich unterstützt, ihre strenge Haltung auf und bürgte für jedes Finanzhaus. Am Freitag gingen auch der Bank von England die Goldreserven aus. Am Abend wurde sie durch eine Goldeinlage gerettet, die der einzige Mann in England oder der ganzen Welt aufgebracht hatte, dem so etwas möglich war: Nathan Rothschild. Rothschild war der König der City.
Der Winter, in dem Lucy acht Jahre alt wurde, war hart für die Familie. Ihre Mutter schaffte es zwar, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, sie wurde aber von einem trockenen Husten sehr geplagt, und vor allem wurden Horatios Beine schwächer. Manchmal mußte er zu Hause bleiben, wenn Lucy zu Carpenter zur Arbeit ging. Im Frühling schien es ihm besserzugehen, aber manchmal weinte er leise.
Eines warmen Sommerabends sah Lucy erstaunt, wie Silas Dogget die Straße zu ihnen heraufkam. Uneingeladen trat er ein, setzte sich an den Küchentisch und erklärte schroff: »Ich brauche eine Hilfe. Habe euch einen Vorschlag zu machen. Ich zahle euch fünfundzwanzig Shilling pro Woche; das bewahrt euch vor dem Armenhaus.«
»Niemals!« rief Lucys Mutter, als sie hörte, worum es ging.
»Du bist genauso dumm wie dein Mann«, meinte Silas.
»Laß uns in Ruhe und geh!«
Silas zuckte die Schultern und stand langsam auf. Er sah Lucy an. »Dein Sohn ist kränklich, aber das Mädchen sieht kräftig aus. Vielleicht ist sie in ein oder zwei Jahren nicht so stolz wie du.« Er legte Lucy seine schwere Hand auf die Schulter. »Denk nur an deinen Onkel Silas, Mädchen.«
Als Lucy und Horatio eines Septembernachmittags von der Arbeit zurückkamen, hörten sie aus dem Schlafzimmer ein seltsames Geräusch. Sie fanden ihre Mutter auf dem Bett liegen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und sie keuchte nach Luft. Lucy holte eilig eine Nachbarin und wartete ängstlich, während die Frau ihrer Mutter half, bis der Anfall vorbei war.
»Was hat sie?« fragte sie die Frau verzweifelt. »Stirbt meine Mutter?«
»Nein«, erwiderte die Frau. »Viele Leute hier haben das, Lucy. Es ist Asthma. Ich habe schon gesehen, daß Leute gehustet haben und dann gestorben sind«, antwortete die Frau wahrheitsgemäß, »die meisten sind zwar schwach, können aber damit leben.«
»Was kann ich tun, damit es ihr bessergeht?« rief Lucy.
»Mehr Ruhe vor allem. Weniger Sorgen.« Die Frau tätschelte das Kind freundlich.
Ein Monat verging, und ihrer Mutter ging es einigermaßen gut. Aber eines Morgens hatte sie wieder einen Anfall und konnte nicht zur Arbeit gehen. Lucy brachte schließlich das Thema zur Sprache. »Laß mich für Onkel Silas arbeiten, Mutter.«
Ihre Mutter schüttelte vor Abscheu den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, daß du dasselbe tust wie er…«
»Ich glaube, es würde mir nichts ausmachen.«
»Niemals, Lucy, solange ich noch atme. Denk nicht einmal mehr daran.«
Eugene Penny beschloß im September 1827, endlich eine Entscheidung herbeizuführen. Meredith' Bank hatte sich ganz gut aus der Krise gerettet. Lord St. James hatte sein Geld zurückbekommen und erinnerte
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